Gesammelte Werke
«Daneben gibt es aber doch auch die Bilder, die sich an unser Gefühl wenden, und ein Kunstbild ist zum Beispiel eine Mischung aus beiden Ansprüchen. Willst du aber darüber hinaus bis dorthin gehen, wo etwas nur noch für das Gefühl etwas anderes vertritt, so mußt du an solche Beispiele denken wie eine flatternde Fahne, die in besonderen Augenblicken ein Bild unserer Ehre ist –»
«Da läßt sich doch nur noch von einem Symbol, aber von keinem Bild mehr reden!» warf Agathe ein.
«Sinnbild, Gleichnis, Bild, es geht ineinander über» meinte Ulrich. «Sogar solche Beispiele gehören hieher wie das Krankheitsbild und der Heilungsplan, die sich ein Arzt macht. Sie müssen die erfinderische Ungenauigkeit der Einbildung, immerhin aber auch die Genauigkeit der Ausführbarkeit haben. Diese geschmeidige Grenze zwischen der Einbildung des Planens und dem Bild, das vor der Wirklichkeit bestehen bleibt, ist im Leben überall wichtig und schwer zu finden.»
«Wie verschieden wir sind!» wiederholte Agathe nachdenklich.
Ulrich wehrte den Vorwurf lächelnd ab. «Sehr! Ich spreche von der Ungenauigkeit, etwas für etwas zu nehmen, als von einer Fruchtbarkeit und Leben spendenden Gottheit und bemühe mich, ihr so viel Ordnung beizubringen, als sie verträgt; und du bemerkst nicht, daß ich längst auch von der wahrhaften Möglichkeit doppelgängerischer Zwillinge rede, zwei Seelen zu haben und eine zu sein?» Er fuhr lebhaft fort: «Stelle dir Zwillinge vor, die einander ‹zum Verwechseln› ähnlich sehen, stelle sie dir in der gleichen Haltung vor, und bloß durch eine als Strich angedeutete Wand getrennt, die dir bestätigt, daß es zwei selbständige Wesen sind. Und nun mögen sie in einer unheimlichen Steigerung einander auch in dem, was sie tun, wiederholen, so daß du unwillkürlich das gleiche von ihrem Innern annimmst: Was ist das Unheimliche dieser Vorstellung? Daß wir sie an nichts unterscheiden können, und daß sie doch zwei sind! Daß für uns in allem, was wir mit ihnen unternehmen können, der eine so gut wie der andere ist, obwohl sich an ihnen dabei doch etwas wie ein Schicksal vollzöge! Kurz, daß sie für uns gleich sind, und für sich nicht!»
«Warum treibst du solchen gruseligen Spuk mit den Zwillingen?» fragte Agathe.
«Weil das ein Fall ist, der oft vorkommt. Es ist der Fall des Verwechselns, der Gleichgültigkeit, des in Bausch und Bogen Nehmens und Behandelns, der Vertretbarkeit ..., also ein Hauptkapitel aus den Bräuchen des Lebens. Ich habe es bloß ausgeschmückt, um es dir etwas auffälliger zu machen. Denn nun kehre ich es um: Unter welchen Umständen werden die Zwillinge für uns zweierlei und für sich ein und dasselbe sein? Ist das auch Spuk?»
Agathe preßte seinen Arm und seufzte. Dann gab sie zu: «Wenn es möglich ist, daß zwei Menschen für die Welt gleich sind, so könnte es auch sein, daß uns ein Mensch doppelt erscheint. – Aber du zwingst mich, Unsinn zu reden!» fügte sie bei.
«Stell dir zwei Goldfische in einem Glas vor» bat Ulrich.
«Nein!» sagte Agathe entschlossen, wenn auch lachend. «Ich tue nicht mehr mit!»
«Bitte, stell es dir vor! Ein kugelförmiges großes Glas, wie man es manchmal in einem Salon sieht. Du kannst nebenbei denken, daß das Glas auch so groß sein kann wie die Grenzen unseres Grundstücks. Und zwei golden rötliche Fische, die ihre Flossen wie Schleier bewegen und langsam auf und nieder schwingen. Lassen wir beiseite, ob sie wirklich zwei oder eins sind. Für einander werden sie vorerst jedenfalls zwei sein; dafür sorgen schon der Futterneid und das Geschlecht. Auch weichen sie einander ja aus, wenn sie sich zu nahe kommen. Ich kann mir aber gut vorstellen, daß sie für mich eins werden: Ich brauche bloß auf diese Bewegung zu achten, die sich langsam einzieht und entfaltet, so ist das einzelne schimmernde Geschöpf bloß ein unselbständiger Teil dieser gemeinsam auf und ab steigenden Bewegung. Nun frage ich, wann es ihnen selbst auch so geschehen könnte.»
«Es sind Goldfische!» warnte Agathe. «Und keine Tanzgruppe, die an übernatürlichen Einbildungen leidet!»
«Es sind du und ich,» entgegnete ihr Bruder nachdenklich «und darum möchte ich auch versuchen, den Vergleich richtig zu Ende zu bringen. Es scheint mir eine lösbare Aufgabe zu sein, sich vorzustellen, wie an ihrer geteilt-einigen Bewegung die Welt vorbeigleitet. Es geschieht nicht anders, als sich an einem Eisenbahnzug, der durch Krümmungen fährt, die Welt
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