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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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dieses Theater? Es muß in den achtziger oder neunziger Jahren einen Baumeister gegeben haben, der in den meisten größeren Städten solche Theaterschatullen hinsetzte, die um und um mit Zierformen und Statuenzierrat beschlagen waren. Und Feuermaul ist richtig in dieser Spinn- und Webstadt auf die Welt gekommen: als Sohn eines wohlhabenden Tuchkommissionärs. Ich erinnere mich, daß diese Zwischenhändler aus mir unbekannten Gründen mehr verdienten als die Fabrikanten selbst; und die Feuermauls gehörten schon zu den reichsten Leuten in B..., ehe der Vater in Ungarn mit Salpeter oder weiß Gott welcher Mordproduktion ein noch größeres neues Leben begann: Du bist doch gekommen, um dich bei mir nach Feuermaul zu erkundigen?» fragte Ulrich.
    «Eigentlich nicht» erwiderte sein Freund. «Ich habe erhoben, daß sein Vater große Pulverlieferungen für das Kriegsministerium hat. Damit ist ja der Menschengüte seines Sohnes im vorhinein ein Zügel angelegt. Der Beschluß bleibt Episode, dafür stehe ich dir gut.»
    Aber Ulrich hörte nicht. Es war ihm ein langentbehrter Genuß, sich in einer ganz alltäglichen Weise reden zu hören; und scheinbar ging es Agathe auch so. «Dieses alte B... ist übrigens eine üble Stadt» fing er von neuem an. «In der Mitte liegt auf einem Berg eine alte häßliche Festung, deren Kasematten von der Mitte des 18. bis zu der des 19. Jahrhunderts als Staatsgefängnis gedient haben und berüchtigt waren, und die ganze Stadt ist stolz darauf!»
    «Der Lachberg (Spielberg, Gnadenberg)» bestätigte der General höflich.
    «Ein netter Lach-Berg!» rief Agathe aus und ärgerte sich über ihr Bedürfnis nach Gewöhnlichkeit, als Stumm das Wortspiel geistvoll fand und ihr versicherte, daß er zwei Jahre in B... garnisoniert habe, ohne auf diesen Zusammenhang gekommen zu sein.
    «Das wahre B... ist natürlich die Fabrikstadt, die Tuch- und Garnstadt» fuhr Ulrich fort und wandte sich an Agathe. «Was sind das doch große, schmale, schmutzige Häuserschachteln mit unzähligen Fensterlöchern, Gäßchen, die nur aus Hofmauern und Eisentoren bestehn, Straßen, die sich breit, ausgefahren und trostlos krümmen!» Ein paarmal hatte er nach dem Tod des Vaters dieses Viertel durchstreift. Er sah die hohen Schornsteine wieder, an denen die schmutzigen Fahnen des Reichs hingen, und dann verlor sich seine Erinnerung unvermittelt ins Land, das auch wirklich unvermittelt hinter den Fabrikmauern begann, mit schwerer, fetter, fruchtbarer Erde, die im Frühling schwarzbraun aufbrach, niedrigen, langen, längs der Straße liegenden Dörfern und Häusern, die nicht nur in schreienden Farben angestrichen waren, sondern in solchen, die mit unverständlicher Stimme schrien. Es war ein demütiges und doch fremdgeheimnisvolles Bauernland, aus dem die Industrie (die städtische Geschäftigkeit) ihre Arbeiter und Arbeiterinnen sog, weil es eingeengt zwischen ausgedehnten Zuckerrübenplantagen des Großgrundbesitzes dalag, der ihm nicht die nötigste Wohlhabenheit übrig gelassen hatte. Jeden Morgen riefen die Fabriksirenen aus diesen Dörfern Scharen von Bauern in die Stadt und verstreuten sie zwar des Abends wieder über das Land, aber mit den Jahren blieben doch immer mehr dieser tschechischen, von dem öligen Wollstaub der Fabriken an Gesicht und Fingern dunkelhäutigen Landleute in der Stadt zurück und machten das dort schon vorhandene slawische Kleinbürgertum kräftig wachsen.
    Daraus ergaben sich schwierige Verhältnisse, denn die Stadt war deutsch. Sie lag sogar in einer deutschen Sprachinsel, wenn auch auf deren äußersten Spitze, und wußte sich seit dem 13. Jahrhundert in die stolzen Erinnerungen deutscher Geschichte verflochten. Man konnte in ihren deutschen Schulen lernen, daß hierorts schon der Türkenprediger Kapristan wider die Hussiten gepredigt habe, zu einer Zeit, wo gute Österreicher noch in Neapel geboren werden konnten; daß die Erbverbrüderung zwischen den Häusern Habsburg und Ungarn, die 1364 den Grund zur österreichisch-ungarischen Monarchie gelegt hat, nirgends anders abgeschlossen sei, als hier; daß die Schweden im ...? Krieg diese tapfere Stadt einen ganzen Sommer lang belagert hatten, ohne sie erobern zu können, und noch weniger hatten das die Preußen im Siebenjährigen Krieg vermocht. Natürlich war dadurch die Stadt ebenso auch in die stolzen hussitischen Erinnerungen der Tschechen verflochten und in die selbständigen geschichtlichen der Ungarn, möglicherweise sogar auch in die

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