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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Müdigkeit, und wahrscheinlich auch anfänglich nicht; und ebensowenig sind Sättigung und Hunger auch nur im Ansatz zu verwechseln. Es wird also wohl zu Beginn etwas Unfertiges, ein Ansatz, ein Kern, etwas Gefühlartiges und diesem Gefühl Zugeartetes schon vorhanden sein. Ich möchte sagen, ein Fühlen, aber noch kein Gefühl; doch ist es besser, ich führe ein Beispiel aus, und ich will dazu das verhältnismäßig einfache des von außen treffenden körperlichen Schmerzes wählen:
    Er kann eine örtlich begrenzte Empfindung sein, die an einer Stelle bohrt oder brennt und unangenehm, aber fremd ist. Diese Empfindung kann aber auch aufflammen und die ganze Person mit Pein überschütten. Auch ist anfangs oft nur ein leerer Fleck an ihrer Stelle, aus dem erst im nächsten Augenblick Empfindung oder Gefühl aufquillt; denn nicht nur Kindern widerfährt es, daß sie anfangs oft nicht wissen, ob etwas schmerzt. Man hat früher angenommen, daß in diesen Fällen ein Gefühl zu der Empfindung hinzukommt; heute zieht man aber die Annahme vor, daß sich ein Erlebniskern, der ursprünglich noch ebensowenig eine Empfindung wie ein Gefühl sei, sowohl zu der einen wie auch zum andern entwickeln könne.
    Zu diesem ursprünglichen Erlebnisbestand gehört auch schon der Beginn einer Reflex- oder Triebhandlung, eines Zurückzuckens, Zusammenfahrens, Abwehrens oder eines unwillkürlichen Gegenangriffes; und weil das mehr oder minder eine Beteiligung der ganzen Person mit sich bringt, wird damit auch ein innerer Flucht- oder Abwehrzustand verbunden sein, also eine Gefühlsfärbung von der Art der Angst oder des Angriffs. Noch stärker geht sie natürlich von den alarmierten Trieben aus, denn diese sind ja nicht nur Anlagen zu einem zweckmäßigen Handeln, sondern verbreiten bei ihrer Erweckung auch unbestimmte Gemütszustände, die wir als Stimmung der Ängstlichkeit, Gereiztheit, in anderen Fällen der Verliebtheit, Empfänglichkeit und so weiter bezeichnen. Selbst das Nichtgeschehen und Nichtstunkönnen hat eine solche Gefühlsfarbe; meistens sind die Triebe aber mit einer mehr oder weniger bestimmten Willensbildung verbunden, und dann findet alsbald auch eine bewußte Erkundung der Lage statt, die an sich selbst ein Sichstellen und also angreifend gefärbt ist. Sie kann aber auch auf Kühle und Ruhe hinwirken; oder es ist der Schmerz sehr heftig, dann unterbleibt sie, und man geht seiner Quelle plötzlich aus dem Wege: Schon dieses Beispiel spielt also, und schon in den ersten Augenblicken, zwischen Empfindung, Gefühl, selbsttätiger Erwiderung, Wille, Flucht, Abwehr, Angriff, Schmerz, Zorn, Neugierde und kühler Sammlung hin und her und zeigt dadurch, daß nicht sowohl ein ursprünglicher Gefühlszustand da ist, als vielmehr wechselnde Ansätze zu deren mehreren einander ablösen oder ergänzen.
    Das gibt der Behauptung, es sei wohl ein Fühlen da, aber noch kein Gefühl, den Sinn, daß immer die Anlage zu einem Gefühl da sei, sich aber nicht zu erfüllen brauche, und daß immer ein Ansatz da sei, der aber hinterdrein auch als Ansatz zu einem anderen Gefühl gedient haben kann.»
    «Die eigentümliche Weise, auf die das Gefühl dabei sowohl von Anfang an vorhanden als auch nicht vorhanden ist, läßt sich aber durch den Vergleich ausdrücken, daß man sich sein Wachsen und Werden nach dem Bild eines Waldes vorstellen müsse, und nicht nach dem eines Baumes. Eine Birke beispielsweise bleibt vom Keimen bis zum Absterben sie selbst; ein Birkenwald kann dagegen als gemischter beginnen und wird ein Birkenwald, sobald diese Bäume – zufolge von Ursachen, die recht verschieden sein können – in ihm überwiegen und die Abweichungen vom reinen Gepräge des Birkenschlags nicht mehr ins Gewicht fallen.
    So verhält es sich auch mit dem Gefühl und, was immer mißverstanden werden kann, mit der Gefühlshandlung. Sie haben immer eine Eigenart, aber diese ändert sich mit allem, was in sie hineinspielt, bis sie mit wachsender Bestimmtheit die Merkmale eines bekannten Gefühls annimmt und seinen Namen ‹verdient›, was immer eine Spur von freier Würdigung an sich behält. Gefühl und Gefühlshandlung können sich aber von diesem Typus auch wieder entfernen und sich einem anderen annähern, was nichts Ungewöhnliches ist, weil doch ein Gefühl schwanken kann und überhaupt verschiedene Verfassungen durchmacht. Der Unterschied von der gewöhnlichen Auffassung liegt darin, daß nach dieser das Gefühl als ein bestimmtes Erlebnis gilt,

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