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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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dienen. Und so hängen auf diese Weise wohl auch die hundert und ein Arten der Liebe zusammen, über die Agathe und ich nicht ganz ohne Kummer gescherzt haben. Die Frage, wie es kommt, daß so ganz Verschiedenes mit dem einen Wort Liebe bezeichnet wird, hat die gleiche Antwort wie die Frage, warum wir unbedenklich von Eß-, Mist-, Ast-, Gewehr-, Weg- und anderen Gabeln reden! Allen diesen Gabeleindrücken liegt ein gemeinsames ‹Gabeligsein› zugrunde; aber es steckt nicht als gemeinsamer Kern in ihnen, sondern fast ließe sich sagen, es sei nicht mehr als ein zu jedem von ihnen möglicher Versuch. Denn sie brauchen nicht einmal untereinander alle ähnlich zu sein, es genügt schon, wenn eins das andere gibt, wenn man von einem zu anderen kommt, wenn nur Nachbarglieder einander ähnlich sind; entferntere sind es dann durch ihre Vermittlung. Ja, auch das, was die Ähnlichkeit ausmacht, das die Nachbarn Verbindende, kann in einer solchen Kette wechseln; und so kommt man ereifert von einem Ende des Wegs zum andern und weiß kaum noch selbst, auf welche Weise man ihn zurückgelegt hat.»
    «Wollten wir aber, wozu wir neigen, die zwischen allen Lieben bestehende Ähnlichkeit für ihre Ähnlichkeit mit einer Art von ‹Urliebe› ansehen, die gleichsam ohne Arme und Beine in ihrer aller Mitte säße, so wäre es anscheinend der gleiche Fehler wie der Glaube an eine ‹Urgabel›. Und doch kennen wir das lebendige Zeugnis dafür, daß es solches Gefühl wirklich gibt. Bloß der Grad dieses ‹Wirklich› läßt sich schwer bestimmen. Es ist ein anderes als das der wirklichen Welt. Ein Gefühl, das nicht Gefühl für etwas ist; ein Gefühl ohne Begehren, ohne Bevorzugung, ohne Bewegung, ohne Kenntnis, ohne Grenzen; ein Gefühl, zu dem kein bestimmtes Verhalten und Handeln gehört, jedenfalls kein ganz wirkliches Verhalten: so wahrhaftig dieses Gefühl nicht von Armen und Beinen bedient wird, so wahrhaftig ist es uns immer wieder entgegengetreten und ist uns lebendiger als das Leben erschienen! Liebe ist schon ein zu besonderer Name dafür, wenngleich es mit einer Liebe, für die Zärtlichkeit oder Geneigtheit noch zu handgreifliche Ausdrücke sind, wohl die allernächste Verwandtschaft hat. Es verwirklicht sich auf vielerlei Art und in vielen Beziehungen, aber es läßt sich niemals ganz von dieser Verwirklichung ablösen, die es verunreinigt. So ist es uns erschienen und verschwunden, eine Ahnung, die immer gleich blieb. Scheinbar haben die nüchternen Überlegungen, womit ich diese Blätter gefüllt habe, wenig damit zu tun, und doch bin ich fast sicher, daß sie mich an den richtigen Übergang geführt haben!»
    [◁]
75
    Zurück zur Wirklichkeit. Oder Der Tugut singt
    Professor August Lindner sang ein Lied. Er wartete auf Agathe.
    Ach, des Knaben Augen sind
    Mir so schön und klar erschienen,
    Und ein Etwas strahlt aus ihnen,
    Das mein ganzes Herz gewinnt.
    Blickt er doch mit diesen süßen
    Augen nach den meinen hin!
    Säh er dann sein Bild darin,
    Würd er wohl mich liebend grüßen.
    Und so geb ich ganz mich hin,
    Seinen Augen nur zu dienen,
    Denn ein Etwas strahlt aus ihnen,
    Das mein ganzes Herz gewinnt.
    Es war ursprünglich ein spanisches Lied. In Lindners Wohnung stand ein kleines Klavier aus Frau Professor Lindners Zeiten, das zuweilen der Aufgabe diente, die Bildung und Erziehung des Sohnes Peter abzurunden, weshalb dieser schon einige Saiten daraus entfernt hatte. Lindner selbst benutzte es niemals, es sei denn, daß er hie und da ein paar weihevolle Akkorde darauf anschlug; und obgleich er schon lange vor dem Tongerät auf und ab gegangen war, hatte er sich zu seinem ungewöhnlichen Versuch erst hinreißen lassen, nachdem er sich vorsichtig davon überzeugt hatte, daß sowohl seine Wirtschafterin als auch Peter aus dem Hause wären. Seine Stimme hatte ihm sehr wohlgefallen, sie war ein hoher, zum Gefühlsausdruck offenbar recht geeigneter Bariton; und nun hatte Lindner das Klavier nicht geschlossen, sondern stand, den Arm darauf gestützt, das Spielbein über das Standbein gekreuzt, überlegend daneben. Agathe hatte über eine Stunde Verspätung. Die Leere des Hauses, die einesteils davon, andernteils von seinen Anordnungen herrührte, kam ihm als schuldhafte Vorbereitung zu Bewußtsein.
    Er hatte eine Seele gefunden, die er zu retten bemüht war, die den Eindruck hervorrief, sich ihm anzuvertrauen, und die von verwirrendem Reichtum war; und welchen Mann entzückte es nicht, ein kaum noch erwartetes

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