Gesammelte Werke
Liebenden, die auf der Höhe des Gefühls nicht mehr wußten, welche Richtung aufwärts und welche abwärts führt. Sahen sie jetzt einander an, so konnte sich das Auge in süßer Qual nicht von dem Anblick zurückziehen, den es sah, und versank wie in einer Blumenwand, ohne auf Grund zu stoßen. «Was mögen jetzt die Uhren machen?» fiel Agathe mit einemmal ein und erinnerte sie an den kleinen, idiotischen Sekundenzeiger von Ulrichs Uhr mit seinem genauen Vorrücken den engen Kreis entlang; die Uhr stak in der Tasche unter dem letzten Rippenbogen, als wäre dort die letzte Rettungsstelle der Vernunft, und Agathe sehnte sich danach, sie hervorzuziehen. Ihr Blick löste sich von dem ihres Bruders: wie schmerzhaft war dieser Rückzug! Sie fühlten beide, daß es hart ans Komische streifte, dieses gemeinsame Schweigen unter dem Druck eines schweren Berges von Seligkeit oder Ohnmacht.
Und plötzlich sagte Ulrich, ohne daß er sich vorher überlegt hätte, gerade das zu sagen: «Die Wolke des Polonius, die bald als Schiff, bald als Kamel erscheint, ist nicht die Schwäche eines nachgiebigen Höflings, sondern bezeichnet ganz und gar die Art, in der uns Gott geschaffen hat!»
Agathe konnte nicht wissen, was er meine; aber weiß man es immer bei einem Gedicht? Wenn es gefällt, öffnet es die Lippen und macht lächeln, und Agathe lächelte. Sie war schön mit den geschwungenen Lippen, aber Ulrich hatte dabei Zeit, und nach und nach besann er sich auf das, was er gedacht hatte, ehe er das Schweigen brach. Natürlich hatte er viel gedacht. Er hatte sich zum Beispiel vorgestellt, Agathe trage eine Brille. Damals galt eine Frau mit einer Brille noch als komisch und sah wirklich zum Lachen oder auch bedauerlich aus; aber es bereitete sich auch schon die Zeit vor, wo sie damit, wie noch heute, unternehmungslustig, ja geradezu jung aussah. Dem liegen die fest erworbenen Gewohnheiten des Bewußtseins zugrunde, die wechseln, aber in irgendeiner Verbindung immer da sind und die Schablone bilden, durch die alle Wahrnehmungen hindurchgehen, ehe sie zu Bewußtsein kommen, so daß in gewissem Sinne immer das Ganze, das man zu erleben glaubt, die Ursache von dem ist, was man erlebt. Und selten macht man sich eine Vorstellung davon, wie weit das reicht und daß es von schön und häßlich, von gut und böse, wo es noch natürlich zu sein scheint, daß des einen Morgenwolke des anderen Kamel sei, über bitter und süß oder duftig und übelriechend, die schon etwas Sachliches haben, bis zu den Sachen selbst reicht, mit ihren genau und unpersönlich zugewiesenen Eigenschaften, deren Wahrnehmungen scheinbar ganz unabhängig von geistigen Vorurteilen ist und es in Wahrheit nur zum großen Teil ist. In Wahrheit ist das Verhältnis der Außen- zur Innenwelt nicht das eines Stempels, der in einen empfangenden Stoff sein Bild prägt, sondern das eines Prägestocks, der sich dabei deformiert, so daß sich seine Zeichnung, ohne daß ihr Zusammenhang zerrisse, zu merkwürdig verschiedenen Bildern verändern kann. Also daß auch Ulrich, wenn er zu denken vermochte, daß er Agathe mit einer Brille vor sich sehe, ebenso denken konnte, daß sie Lindner oder Hagauer liebe, daß sie seine «Schwester» sei oder «das zwillinghaft halb mit ihm vereinte Wesen», und keinmal war es eine andere Agathe, die vor ihm saß, sondern ein anderes Dasitzen, eine andere sie umschließende Welt, so wie eine durchsichtige Kugel, die in ein unbeschreibliches Licht taucht. Und es schien ihnen beiden, daß der tiefste Sinn des Halts, den sie aneinander suchten und den überhaupt ein Mensch am anderen sucht, darin liege. Sie glichen ja zwei Menschen, die Hand in Hand aus dem Kreis, der sie fest umschlossen hat, herausgetreten sind, ohne schon in einem anderen Kreis zu Hause zu sein. Darin lag etwas, das sich den gewöhnlichen Begriffen des Zusammenlebens nicht unterordnen ließ...
Sie hatten sich vorgenommen, so zu leben wie Geschwister, wenn man dieses Wort nicht im Sinne einer standesamtlichen Urkunde, sondern in dem eines Gedichts nimmt; sie waren nicht Bruder und Schwester, noch Mann und Frau, ihre Wünsche waren wie weißer Nebel, in dem ein Feuer brennt. Aber das genügte, um ihrer Erscheinung für einander zuweilen den Halt an der Welt zu nehmen. Die Folge war, daß die Erscheinung dann sinnlos stark wurde. Solche Augenblicke enthielten eine Zärtlichkeit ohne Ziel und Schranken. Auch ohne Namen und Hilfe. Jemandem etwas zuliebe tun, enthält im Tun tausend
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