Gesammelte Werke
ausgeschaltet, weil wir die Dinge wahr-, das heißt ohne Gefühl nehmen wollen, um uns nach ihnen zu richten, statt sie nach uns, was, wie man weiß, soviel bedeutet, wie daß wir endlich, sehr plötzlich und wirklich fliegen gelernt haben, statt nur vom Fliegen zu träumen, wie das die Jahrtausende vor uns getan haben. Diesem in den Dingen gefesselten Gefühl entspricht auf der persönlichen Seite jener Geist der Sachlichkeit, der alle Leidenschaft in den gar nicht mehr wahrnehmbaren Zustand zurückgedrängt hat, daß in jedem Menschen ein Gefühl von seinem Wert, seinem Nutzen und seiner Bedeutung schlummert, das nicht berührt werden darf, ein Grundgefühl des Gleichgewichts zwischen ihm und der Welt. Dieses Gleichgewicht braucht jedoch bloß an irgendeinem Punkt gestört zu werden, so fliegen überall die gefesselten Wölkchen auf. Ein wenig Ermüdung, ein wenig Gift, ein wenig Übermaß an Erregung, und der Mensch sieht und hört Dinge, an die er nicht glauben will, das Gefühl hebt sich, die Welt gleitet aus ihrer mittleren Lage in einen Abgrund oder steigt beweglich, einmalig, visionär und nicht mehr begreiflich an!
Oft kam Ulrich alles, was Agathe und er unternahmen, oder was sie sahen und erlebten, nur wie ein Gleichnis vor. Dieser Baum und jenes Lächeln sind Wirklichkeit, weil sie die sehr bestimmte Eigenschaft haben, nicht bloß Illusion zu sein; aber gibt es nicht viele Wirklichkeiten? Ist es nicht erst gestern gewesen, daß wir Allongeperücken trugen, sehr unvollkommene Maschinen besaßen, aber ausgezeichnete Bücher schrieben? Und erst vorgestern gewesen, daß wir Pfeil und Bogen trugen und zu den Festen Goldhauben aufsetzten, über Wangen, die mit dem Blau des Nachthimmels bemalt waren und orangegelben Augenhöhlen? Ein Ungewisses Verständnis dafür zittert heute noch in uns nach. So vieles war wie heute und so vieles anders, wie wenn das eine Sprache in Bildern sein wollte, von denen keines das letzte ist. Folgt nicht daraus, daß man auch dem gegenwärtigen nicht zu sehr vertrauen soll? Was heute böse ist, wird morgen vielleicht zum Teil schon gut sein, und das Schöne häßlich, unbeachtete Gedanken werden zu großen Ideen geworden sein, und würdevolle der Gleichgültigkeit verfallen. Jede Ordnung ist irgendwie absurd und Wachsfigurenhaft, wenn man sie zu ernst nimmt, jedes Ding ist ein erstarrter Einzelfall seiner Möglichkeiten. Aber das sind nicht Zweifel, sondern es ist eine bewegte, elastische Unbestimmtheit, die sich zu allem fähig fühlt.
Es ist aber eine Eigentümlichkeit dieser Erlebnisse, daß sie fast immer nur in einem Zustand des Nichtbesitzes erlebt werden. So verändert sich die Welt, wenn sich der Entbrannte nach Gott sehnt, der sich ihm nicht zeigt, oder der Verliebte nach der fernen Geliebten, die ihm genommen ist. Sowohl Agathe wie Ulrich hatten das so gekannt, und es in gegenseitiger Gegenwart zu erleben, bereitete ihnen manchmal geradezu Schwierigkeit. Unwillkürlich rückten sie Gegenwart von sich fort, indem sie einander zum erstenmal die Geschichten ihrer Vergangenheit erzählten, worin das vorgekommen war. Aber diese wirkten wieder verstärkend auf das Wunderbare des Zusammentreffens zurück und endeten im Halblicht, in einer zögernden Berührung der Hände, Schweigen und dem Zittern eines Stroms, der durch die Arme floß.
Es ist ein Zustand voll ungeheurer Macht des Inneren, die ganz mit der Macht der Welt in einem liegt. Aber Herr dieses Erlebnisses (Zustandes) werden zu wollen, kam Ulrich jetzt oft ganz lächerlich vor. Ich bin ja seine Frau geworden — sagte er sich —. Wir sind drei Schwestern, Agathe, ich und dieser Zustand.
Oder: Aber Ulrich dachte manchmal auch ganz anderes.
Oder: Aber das war nur eine der unzähligen Seiten, von denen aus man einige Schritte weit eindringen konnte, und nicht weiter.
Manchmal hatte Ulrich auch ganz sonderbare Eingebungen.
Machen wir eine Annahme, – sagte er sich zum Beispiel, um sie später wieder auszuschalten – und setzen wir den Fall, Agathe würde vor der Männerliebe Abscheu empfinden. So müßte ich mich doch, wenn ich ihr als Mann gefallen wollte, wie eine Frau benehmen. Ich müßte zärtlich zu ihr sein, ohne sie zu begehren. Ich müßte ebenso gut zu allen Dingen sein, um ihre Liebe nicht zu erschrecken. Ich dürfte nicht einen Stuhl (Stein) fühllos aufheben, um ihn an eine andere Stelle eines nervenlosen Wesens Raum zu bringen; denn ich darf ihn ja nicht aus einem gleichgültigen Einfall heraus
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