Gesammelte Werke
holen. Die Möglichkeit, das Leben mit seinen Ambivalenzen zu beenden, befreit die ihm innewohnende Freude. Agathes Trauer wurde in einer ihr kaum begreiflichen Weise heiter, während sie das Gift, wie es die Vorschrift verlangte, in ein Glas Wasser schüttete (als sie das Gift vor sich auf den Tisch legte. Sie holte ein Glas und eine Flasche Wasser und stellte sie daneben). Auf das natürlichste schied sich ihre Zukunft in die beiden Möglichkeiten, sich zu töten oder das Tausendjährige Reich zu erreichen, und nachdem das zweite nicht mehr gelang, blieb nur das erste übrig. (Diese Traurigkeit war wie ein tiefer Graben mit glatten Rändern, der sie hin- und herführte, während sie oben, unsichtbar und unerreichbar, Ulrich hörte, der sich mit anderen Menschen unterhielt. – Der Selbstmordbeschluß, ist er nicht nur so markiert und in Wahrheit Abtun des früheren Lebens?!)
Es kam der Abschied. Agathe war viel zu jung, um ganz ohne Pathetik aus dem Leben scheiden zu können, und sie recht zu verstehen, darf auch nicht verschwiegen werden, daß ihr Entschluß affektiv nicht genug fixiert war: ihre Verzweiflung war nicht ausweglos, nicht das Zusammenbrechen nach allen Versuchen, es gab für sie, wenn er auch im Augenblick verdunkelt (verlegt) erschien, immer noch einen zweiten Weg. Ihr Abschied von der Welt war anfangs bewegt wie eine Abreise. Zum erstenmal erschienen ihr alle Figuren, die ihr darin begegnet waren, als etwas, das sich in Ordnung befand, jetzt, wo sie gar nichts mehr mit ihnen zu tun haben sollte.
Sie mag schlecht, verbrecherisch, psychopathisch handeln: in einer anderen Welt wäre das gut. Sie ist unter einer anderen Geistesrasse umhergegangen ...
Es kam ihr schön und friedlich vor, dem Leben nachzusehn. Übrigens gehen ganze Generationen im Handumdrehn dahin. Nicht nur sie hatte mit ihrer Schönheit eigentlich nichts anzufangen gewußt. Sie dachte an das Jahr 2000, hätte gern gewußt, wie es dann aussehen werde. Dann erinnerte sie sich an Gesichter aus dem 16. Jahrhundert, die sie in irgendeiner Sammlung von Abbildungen einmal gesehen haben mußte. Vortreffliche Gesichter mit starken Stirnen und mit kräftigeren Gesichtszügen, als man es heute sieht. Man konnte verstehn, daß alle diese Menschen einmal eine Rolle gespielt hatten. Dazu brauchte man aber wohl Mitspieler; einen Beruf, eine Aufgabe und ein bewegendes Leben. Aber ihr war dieser Rollenehrgeiz völlig fremd. Sie hatte nie etwas sein wollen von dem, was man sein könnte. Die Welt der Männer war ihr immer fremd geblieben. Die Welt der Frauen hatte sie verachtet. Zuweilen hatte sie die Neugierde ihres Körpers, das Verlangen des Fleisches mit anderen in Berührung gebracht, so wie man auch ißt und trinkt. Es war aber immer ohne tiefere Verantwortung geschehn, und so hatte ihr Leben aus der Öde des Kinderzimmers, von wo es ausgegangen war, nur in ein undeutliches Geschehen ohne Grenzen geführt. So endete alles in Ohnmacht. (Die Reise beginnt dann mit einer Erschöpfung wie nach einem Anfall, worin sie alles dankbar hinnimmt.)
Freilich war diese Ohnmacht nicht ohne Kern: Gott hat nicht nur dieses Leben ... Welt eine von vielen möglichen ... Das beste an uns eine hauchähnliche, eine ewig wie ein Vogel vom Ast fliegende (Masse)... In ihrer Abneigung gegen die Autorität der Welt stak immer eine Vision. Ja mehr als eine Vision; sie hatte es doch beinahe schon gegriffen: Man kommt zu sich, wenn ... vergeht. Es ist mehr als eine Anwandlung, dieses dunkle Blinken. Es schien ihr aber wenig Sinn zu haben, sich das zu wiederholen. All diese Erfahrungen klangen wohl durcheinander mit, aber sie waren nicht nur ... ehedem. Sie hatten etwas Sehern. und ... Wirkliches. Es war ihr nicht gegeben, Gott deutlich zu schauen, so wenig wie irgendetwas!
Ohne Gott blieb von ihr nur das Schlechte übrig, das sie getan hatte. Nutzlos war sie beschmutzt und empfand Widerwillen gegen sich. Auch alles, was sie soeben wiederholt hatte, war ihr nur in Ulrichs Gesellschaft deutlich geworden, mehr als eine nervöse Spielerei gewesen. Unwillkürlich empfand sie heiße Dankbarkeit für ihren Bruder. Sie liebte ihn in diesem Augenblick wahnsinnig.
Und dann fiel ihr ein: alles, was er gesagt hatte, alles, was er noch sagen konnte, hatte er entwertet!
Sie mußte Schluß machen, ehe er zurückkehrte. Sie sah nach der Uhr. Was für ein zärtliches Ding dieser kleine Zeiger. Sie schob die Uhr fort. Es wurde ihr unheimlich ... Todesfurcht ... stumpf, quälend,
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