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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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bemühte, ein unantastbares Bild von Moosbruggers Unzurechnungsfähigkeit zu gewinnen. Er sah blond, gewöhnlich und unsentimental aus, und sein Gesicht war durch die Spuren einiger Studentenmensuren nicht gerade geistvoller geworden; aber das Selbstbewußtsein der Jugend hieß ihn, in der Frage von Moosbruggers Schuld und Straffähigkeit die ärztliche Auffassung mit einem Eifer vertreten, der die übliche Halbheit verabscheute. Er hätte nicht genau sagen können, worin die ärztliche Auffassung bestehe. Sie ist eben anders. Eine gewöhnliche Trunkenheit ist zum Beispiel für sie eine echte Geisteskrankheit, die von selbst ausheilt, und daß Moosbrugger teils ein Ehrenmann, teils ein Lustmörder war, bedeutete nach ihren Begriffen einen Triebwettstreit, bei dem es sich von selbst verstand, daß er sich jeweils im Sinne des stärkeren oder nachhaltigeren Triebs entscheiden mußte. Wenn andere das nun einen freien Willen und eine gute oder böse sittliche Entscheidung nennen mögen, so ist es ihre Sache. «Wer gibt?» fragte er.
    Es zeigte sich, daß er selbst die Karten zu mischen und auszuteilen hatte. Während er es tat, wandte sich Dr. Pfeiffer mit der Frage an Clarisse, welches Interesse die «Frau Kollegin» herführe. Dr. Friedenthal hob vorbeugend die Hand und riet: «Sagen Sie, um Gotteswillen, nichts von Heilkunde, die deutsche Sprache hat kein zweites Wort, das dieser Arzt so wenig hören möchte!» Es war die Wahrheit und bot den Vorteil, daß es die unberechtigte Besucherin vor den anderen als Ärztin erscheinen ließ, ohne daß Friedenthal das ausdrücklich behaupten mußte. Er lächelte zufrieden. Dr. Pfeiffer quittierte die Neckerei mit einem geschmeichelten Grinsen. Er war ein schon älterer kleiner Mann, an dessen oben abgeplattetem, nach hinten in die Tiefe gewölbtem Schädel ungepflegte Bart- und Haarstummel hingen; die Nägel an seinen Fingern waren ölig von Zigaretten und Zigarren und hielten am Rand einen schmalen Schmutzstreifen fest, obwohl sie in ärztlicher Weise ganz kurz geschnitten erschienen. Man sah es jetzt deutlich, weil die Spieler inzwischen ihre Karten aufgenommen hatten und sie sorgsam ordneten. «Ich passe» erklärte Moosbrugger. «Ich spiele» Dr. Pfeiffer, «Gut» der junge Arzt; der Geistliche sah dieses Mal zu. Das Spiel war matt und nahm ohne Aufregungen seinen Lauf.
    Clarisse, die neben Friedenthal abseits stand, versteckte sich ein wenig hinter ihm, hob ihren Mund an sein Ohr und flüsterte, mit dem Blick auf Moosbrugger weisend: «Er hat immer nur Ersatz-Weiber gehabt!»
    «Pst! Um Himmelswillen ...!» flüsterte Friedenthal flehend zurück und fragte, nahe an den Tisch tretend, laut: «Wer gewinnt?», um die Unvorsichtigkeit zu vertuschen. «Ich verliere» erklärte Pfeiffer. «Moosbrugger hat hinterlistig gepaßt! Unser junger Kollege will von mir keinen Rat annehmen; es ist mir unmöglich, ihn zu überzeugen, daß es ein verhängnisvoller Irrtum ist, wenn Ärzte glauben, daß kranke Verbrecher in ihre Krankenanstalten gehören». Moosbrugger grinste. Pfeiffer scherzte und setzte das zuvor begonnene Geplänkel mit Friedenthal fort; das Spiel war ohnehin nicht zu retten. «Sie selbst müßten einem solchen jungen Medikus bei Gelegenheit sagen,» bat er ironisch «daß es eine Utopie ist, böse Menschen medizinisch heilen zu wollen, und überdies ein Nonsens, denn das Böse ist nicht nur in der Welt vorhanden, sondern auch unentbehrlich für ihren Fortbestand. Wir brauchen böse Menschen, wir dürfen sie nicht alle für krank erklären –»
    «Sie haben keinen Stich mehr» sagte der ruhige junge Arzt und legte die Karten hin. Diesmal lächelte der Geistliche, der zugesehn hatte. Clarisse hatte etwas zu verstehen geglaubt. Es wurde ihr warm. Aber Pfeiffer sah abscheulich aus. «Es ist eine nonsensistische Utopie» witzelte er. Sie kannte sich nicht aus. Es war vermutlich doch nur das würdelose Spiel von Teufeln um eine Seele. Pfeiffer hatte sich eine neue Zigarre angezündet, und Moosbrugger teilte die Karten aus. Er sah zum erstenmal für einen Augenblick zu Clarisse hinüber, und dann wurde er gefragt, was er auf die Spielansagen der andern zu erwidern habe.
    Bei diesem Spiel setzte der Assistent aus. Er schien darauf gewartet zu haben und seine Gedanken ganz langsam zu Worten zusammenzuziehen. «Für einen Naturwissenschaftler» sagte er «gibt es nichts, was seinen Grund nicht in einem Gesetz der Natur hätte. Wenn ein Mensch also ohne vernünftigen äußeren

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