Gesammelte Werke
brüllte, Wasser und Erde stoben vermengt vom Boden auf, Schrecken rüttelte die Luft. Der Grieche zitterte wie ein elektrisierter armer Tierkörper. Clarisse jauchzte, umschlang ihn mit «Blitzarmen» und schlug in ihn ein. Da sprang er aus dem Wagen.
Als Clarisse lange nach ihm – sie hatte den Kutscher gezwungen, langsam durch das Gewitter zu fahren, und langsam weiter, als wieder die Sonne schien und Wagenleder, Felder und Pferde dampften, während sie Geheimnisvolles sang – nach Hause kam, fand sie einen Zettel des Griechen auf ihrem Zimmer, worin er ihr noch einmal mitteilte, daß der Schutzmann in seinem Zimmer sei, sich ihren Besuch verbat und am nächsten Morgen abzureisen erklärte. Beim Abendessen erfuhr Clarisse, daß seine Abreise Wahrheit sei. Sie wollte zu ihm eilen, aber sie nahm wahr, daß alle Frauen sie beobachteten. Auf den Gängen wollte die Unruhe nicht enden. So oft Clarisse den Kopf aus der Tür steckte um in das Zimmer des Griechen zu huschen, kamen Frauen vorbei. Diese dummen Personen sahen Clarisse spöttisch an, statt zu begreifen, daß der Schutzmann sie alle verhöhnte. (Oder: ein fremder Mann öffnete ärgerlich. Der Grieche schon fort?) Und Clarisse traute sich aus irgendeinem Grund mit einemmal nicht mehr aufrecht und harmlos zu der Tür des Griechen zu gehen. Endlich wurde es still und sie schlich ohne Schuhe hinaus. Sie kratzte leise an der Tür, aber niemand antwortete, obgleich durch das Schlüsselloch Licht herausfiel. Clarisse preßte die Lippen an das Holz und flüsterte. Drinnen blieb es still; man hörte ihr zu, aber würdigte sie keiner Antwort. Der Grieche lag mit dem «Schutzmann» im Bett und verachtete sie. Da faßte sie, die noch nie geliebt hatte, der namenlose Schmerz demütiger Eifersucht. «Ich bin seiner nicht würdig,» flüsterte sie «er hält mich für krank» und flüsternd glitten ihre Lippen das Holz hinunter in den Staub. Eine herzzerreißende Begeisterung betörte sie, leise wimmernd stieß sie gegen die Tür, um zu ihm zu kriechen und seine Hand zu küssen, und begriff nicht, daß es ihr vereitelt war.
Als sie in ihrem Bett erwachte und dem Zimmermädchen läutete, erfuhr sie, daß der Grieche abgereist sei. Sie nickte, als ob das zwischen ihnen so verabredet gewesen wäre. «Ich reise auch» sagte Clarisse. «Ich muß es dem Arzt melden» das Mädchen. Kaum hatte es das Zimmer verlassen, sprang Clarisse aus dem Bett und schüttete wie rasend ihren Besitz in einen Handkoffer; was nicht hineinging, und das übrige Gepäck ließ sie zurück. Das Mädchen glaubte, der Herr habe den Münchner Zug genommen. Clarisse floh. «Irrtum ist nicht Blindheit,» murmelte sie «Irrtum ist Feigheit!» «Er hat seine Aufgabe erkannt, aber er besaß nicht genug Mut für sie.» Während sie aus dem Haus schlich, an seinem verlassenen Zimmer vorbei, traf sie wieder mit Schmerz und Scham der vergangenen Nacht zusammen. «Er hat mich für krank gehalten!» Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie wurde sogar gerecht gegen das Gefängnis, dem sie nun entsprang, mitleidig nahm sie Abschied von den Mauern und den Bänken vor der Tür. Die Menschen hatten es hier gut mit ihr gemeint, so gut sie es eben verstanden. (Alle waren gegen sie gewesen; auch die Kranken.) «Sie wollten mich heilen» lächelte Clarisse. «Aber Heilen ist Zerstören!» Und als sie im Eilzug saß, dessen stürmende Sprünge sie kräftigend durchdrangen, wurden ihre Entschlüsse klar. Wie kann man irren? Nur, indem man nicht sieht. Wie kann man aber nicht sehn, was doch zu sehen ist?! Indem man sich nicht zu sehn getraut. (Ähnlich erkennt Ulrich, weshalb es keinen radikalen Fortschritt gibt.) Clarisse erkannte wie ein weites grenzenloses Feld das allgemeine Gesetz menschlicher Entwicklung: Irrtum ist Feigheit; wenn die Menschen einmal nicht feig sein werden, wird die Erde einen Sprung vor machen. Gut, wie der Zug mit ihr ohne Aufenthalt davonbrauste. Sie wußte, daß sie den Griechen einholen müsse.
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122
Clarisse in Venedig
[Früher Entwurf]
Clarisse nahm ein Schlafwagenabteil. Als sie den Wagen betrat, sagte sie sofort dem Schaffner: «Hier müssen drei Herrn sein, sehen Sie nach, ich muß sie unbedingt sprechen!» Alle Mitreisenden gerieten, wie ihr schien, unter den starken persönlichen Einfluß, der von ihr ausging, und befolgten ihre Befehle. Auch die Kellner im Speisewagen. Trotzdem mußte der Schaffner erklären, daß er den Griechen, Walter und Ulrich nicht gefunden habe. Darauf
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