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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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gebannten Geistes nach Flügeln so nennen darf – durch seine Art am mächtigsten erregte. Seine Männerbünde, klirrend wie Erzengel in ihrer Phantasie, von denen sie als Frau ausgeschlossen war, hatten sich zu dem Gedanken umgeformt, daß der starke und (was hinzu kam: von den Leiden der Ehe und Liebe) erlöste Mensch homosexuell sei: «Gott selbst ist homosexuell» sagte sie dem Griechen; «er fährt in den Gläubigen, er überwältigt ihn, erfüllt ihn, schwächt ihn, vergewaltigt ihn, behandelt ihn wie eine Frau und fordert von ihm Hingabe, während er die Frauen von der Kirche ausschließt. Erfüllt von seinem Gott geht der Gläubige neben den Frauen wie zwischen krausen, kleinlichen Elementen, die er nicht bemerkt. Liebe ist Untreue an Gott, Ehebruch, beraubt den Geist seiner Menschenwürde. Sündigkeitswahn und Seligkeitswahn locken das Handeln der Menschheit ins Ehebett (Ehebruchbett). Du mein weiblicher König, nimmst mit mir die Sünden der Menschheit auf dich, um sie zu erlösen, indem wir sie begehen, obgleich wir sie schon durchschauen.»
    «Verrückt – verrückt» murmelte der Grieche, aber zugleich leuchteten ihm Clarissens Ideen widerstandslos ein und berührten einen Punkt seines Lebens, der noch nie mit solchem Ernst und solcher Leidenschaft behandelt worden war. Clarisse rüttelte seine träge Seele wach wie ein im tiefsten Dunkel tobender Traum, aber sie behandelte ihn dabei wie ein älterer Knabe in der Pubertät einen kleineren fängt, um die verrückten Opfer des ersten Liebeskults an ihm zu vollziehn. Seine Würde als interessanter Mann litt auf das heftigste unter der ihm aufgezwungenen Rolle, aber zugleich kam diese tief in ihm vergrabenen Phantasien entgegen und Clarissens rücksichtslose Besuche versetzten ihn in einen zitternden Zustand der Hörigkeit. Er fühlte sich nirgends mehr sicher vor ihr, sie lud ihn zu Wagenfahrten ein, während deren sie sich hinter dem Rücken des Kutschers an ihm vergriff, und seine größte Angst war, daß sie es einmal im Sanatorium vor allen Leuten tun werde, ohne daß er sich wehren könne. Schließlich zitterte er, sobald sie ihm nur in die Nähe kam, aber ließ alles mit sich geschehn. «Cette femme est folle» – diesen Satz sagte er dabei leise, unaufhörlich klagend in drei Sprachen her wie ein Schutzgebet.
    Endlich aber – das sonderbare, halb durchsichtige Verhältnis fiel auf und er glaubte zu fühlen, daß man bereits über ihn spottete – riß ihn seine Eitelkeit heraus; weinend fast vor Schwäche suchte er alle Kraft zusammen, um diese Frau von sich abzuschütteln. Als sie in den Wagen stiegen, sagte er mit abgewandtem Gesicht, daß es das letztemal sei. Auf der Fahrt zeigte er ihr einen Schutzmann, behauptete, daß er mit ihm ein Verhältnis habe und dieser nicht mehr dulden wolle, daß er mit Clarisse verkehre; wie um einen Fels schlang er seine Blicke um diesen massigen, in der Straße stehenden Mann, wurde vom wegrollenden Wagen losgerissen, aber fühlte sich durch seine Lüge doch gestärkt, als hätte man ihm etwas zu Hilfe geschickt. Auf Clarisse wirkte es jedoch verkehrt. Den Geliebten ihres «weiblichen Königs» zu sehen, wirkte wie eine überraschende Materialisation auf sie. Sie hatte sich schon in Gedichten als Hermaphrodit bezeichnet und glaubte nun zum erstenmal an ihrem Körper zwitterhafte Eigenschaften bemerken zu können. Sie vermochte es kaum zu erwarten, daß sie das Freie erreichten. «Es ist eine göttliche Liebeskonstellation» sagte sie. Der Grieche fürchtete sich vor dem Kutscher und stieß sie zurück. Er hauchte ihr ins Gesicht, daß es die letzte Fahrt sei. Der Kutscher, ohne sich umzusehn, scheinbar ahnend, daß etwas hinter ihm vorgehe, trieb die Pferde an. Plötzlich war ein Gewitter von drei Seiten heraufgezogen und hatte sie überrascht. Die Luft war dick und voll unheimlicher Spannung, Blitzstrahlen zuckten und Donner rollte heran. «Ich empfange heute abend den Besuch meines Geliebten» sagte der Grieche, «du darfst nicht zu mir kommen!» «Wir reisen ab, heute Nacht!» antwortete Clarisse. «Nach Berlin, der Stadt der ungeheuren Energien!» Mit erschütternden Krach schlug in diesem Augenblick ein Blitz nicht weit von ihnen in die Felder, und die Pferde rissen galoppierend an den Strängen. «Nein!» schrie der Grieche auf und verbarg sich unwillkürlich an Clarisse, die ihn umfing. «Thessalische Hexe dünk ich mich!» schrie sie in den Aufruhr, der nun von allen Seiten losbrach. Blitzfeuer

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