Gesammelte Werke
erkannte sie sich im Spiegel mit völlig klarem sinnlichem Eindruck bald als weiße Teufelin, bald als blutrote Madonna.
Als sie am Morgen in München den Zug verließ, fuhr sie in ein vornehmes Hotel, nahm ein Zimmer, rauchte den ganzen Tag, trank Kognak und schwarzen Kaffee und schrieb Briefe und Telegramme. Irgendein Umstand hatte sie zu der Annahme gebracht, daß der Grieche nach Venedig gereist sei, und sie gab ihre Anweisungen ihm, den Hotels, konsularischen Vertretungen und Ämtern. Sie entwickelte große Geschäftigkeit. «Eilen Sie!» sagte sie zu den roten Boys, welche den ganzen Tag für sie galoppierten. Es war eine Stimmung, wie bei einem Brand, wenn die Feuerwehren anrasseln und die Hörner klagen, oder bei einer Mobilisierung, wo Pferde trappeln, unendliche Züge helmbewehrter, entschlossener Gesichter wie träumend durch die Straßen marschieren, die Luft voll zugeworfener Blumen und grauenschwerer Spannung ist.
Am Abend reiste sie selbst nach Venedig weiter.
Sie stieg in Venedig in einer von Deutschen besuchten Pension ab, wo sie während der Hochzeitsreise gewohnt hatte; man erinnerte sich dunkel der jungen Frau. Das gleiche Leben wie in München begann mit Mißbrauch von Alkohol und Alkaloiden, nur sendete sie jetzt keine Depeschen und Boten mehr aus. Seit dem Augenblick, wo sie in Venedig eingetroffen war, vielleicht weil am Bahnhof nicht schon die Abgesandten der Behörden mit Meldungen standen, besaß sie die Gewißheit, daß der Grieche ihr durch das Netz gegangen und in seine Heimat geflohen sei. Nun galt es, den Sturm zu hemmen und sich zum letzten Angriff ohne Übereilung und mit den strengsten Maßnahmen gegen sich selbst vorzubereiten. Es stand fest, daß sie nach Griechenland segeln werde, aber vorher mußte das rasende Verlangen nach dem Mann, das sie beinahe zu weit vorgerissen hatte, bezähmt werden. Clarisse nahm außer Kaffee und Kognak keine Mahlzeiten zu sich, kleidete sich nackt aus und verriegelte sich in ihrem Zimmer, in welches sie auch die Bedienung nicht einließ. Der Hunger und noch irgendetwas, das sie nicht wahrzunehmen vermochte, versetzten sie in eine tagelange fieberähnliche Verwirrtheit, wovon die ungeduldige Geschlechtserregung allmählich zu einer vibrierenden Stimmung abklang, in die sich allerhand Sinnestäuschungen einmengten. Der Mißbrauch starker Mittel hatte ihren Leib unterhöhlt, sie fühlte, wie er unter ihr zusammenzubrechen begann. Beständiger Durchfall; an einem Zahn entstand eine Lücke und beunruhigte sie Tag und Nacht; auf ihrer Hand begann sich eine häßliche kleine Warze zu bilden. (Hier auch die restlichen Bemerkungen über die Wirkung von Kaffee, Tee und so weiter.) Aber gerade dies trieb sie dazu, ihren Geist immer leidenschaftlicher anzuspannen, wie im Rennen vor dem Ziel, wenn man jedes Bein mit dem Willen heben muß. Sie hatte sich Pinsel und Farbtöpfe verschafft, aus Stuhllehne, Bettkante und einem Bügelbrett, das sie vor ihrer Zimmertür gefunden hatte, baute sie ein Gerüst, das sie längs der Wände verschob, und begann die Wände ihres Zimmers mit großen Entwürfen zu bemalen. Es war die Geschichte ihres Lebens, die sie an die kahle Wand kreuzigte, und so groß war dieser Vorgang der inneren Reinigung, daß Clarisse überzeugt war, in hundert Jahren würde die Menschheit zu den Zeichnungen und Aufschriften wallfahren, um die ungeheuren Kunstwerke zu sehn, mit denen die größte Seele ihre Zelle bedeckt hatte.
Vielleicht waren es wirklich große Werke für jemand, der imstande sein müßte, den Beziehungsreichtum, der sich in ihnen zusammengeknäuelt hatte, auseinanderzufalten. (Außerhalb des Romans bemerkt: im Inhalt liegt nie die Größe? In einer Art der Ordnung?) Clarisse schuf sie in einem ungeheuren Spannungsgefühl. Sie empfand sich groß und schwebend. Sie war über den artikulierten Ausdruck des Lebens hinaus, welcher Worte und Formen schafft, die ein für alle angerichtetes Kompromiß sind, wieder bei der zauberhaften ersten Begegnung mit sich selbst angelangt, dem Irrsinn des ersten Staunens über das Göttergeschenk Wort und Bild. Was sie schuf, war verzerrt, war wirr gehäuft und doch arm, war zügellos und doch nur einem steifen Zwang gehorchend; äußerlich. Innerlich war es: zum erstenmal der Ausdruck ihres ganzen Wesens; ohne Absicht, ohne Überlegung, fast ohne Wille, unmittelbar etwas Zweites, Bleibendes, Größeres werdend, die Transsubstantiation des Menschen zu einem Stück Ewigkeit; endlich die Erfüllung
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