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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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von Clarissens Sehnsucht. Sie sang während sie malte; «von lichten Göttern stamme ich ab!» sang sie. (Vergleiche: Spuren hinterlassen ...)
    Als man in ihr Zimmer eindrang, starrten verständnislose Augen wie die Lichter feindseliger Tiere diese Wände an. Clarisse hatte ein Schiffsbillett gelöst, eine Bettdecke und ein zu einem Turban zusammengedrehtes Tuch als ihre kaiserliche Ausstattung zurechtgelegt, um sie mit an Bord zu nehmen. Dann war ihr eingefallen, daß ein Mensch, der sich auf heiligen Wegen befindet, kein Geld bei sich haben dürfe, ohne einer lächerlichen Inkongruenz zu verfallen, und sie hatte ihren Schmuck und ihr Geld an lachende Gondelführer verteilt. Als sie am Markusplatz vor dem zu ihrer Abreise versammelten Volk eine Rede halten wollte, hatte ihr ein Herr zugesprochen und sie sanft nach Hause gebracht. Da dieser Mann aber die Unvorsichtigkeit beging, sie dem Schutz ihrer Gastgeber zu empfehlen, drangen nun alle bei ihr ein, die Padrona zeterte über angerichteten Schaden, gab Befehl auf Clarissens Eigentum Beschlag zu legen, schimpfte in gemeinen Worten, als kein Eigentum zu finden war, und das Personal kicherte. Eine fürchterliche Grausamkeit starrte Clarisse von allen Seiten an, jener Urhaß der toten Materie, deren ein Teil den anderen vom Platz verdrängt, wenn nicht Verständnis und Anziehung sie aneinander zu einem schließen. Clarisse nahm schweigend Turban und Mantel, um dieses Land zu verlassen und an Bord zu gehn. An den Stufen des Kanals kam ihr aber das immer freundliche braunschwarze Stubenmädchen nach und bat sie zu warten, da ein Herr sich die Ehre geben wollte, ihr vor der Abreise noch etwas zu zeigen. Clarisse blieb schweigend stehn; sie war müde und hatte eigentlich nicht mehr die Kraft zu reisen. Als die Gondel mit dem Herrn und zwei fremden Männern kam, sah sie dem Mädchen ernst in die freundlichen Augen, die jetzt beinahe in einem nassen Schimmer schwebten, und dachte das schwere Wort Ischariot. (Sie hatte keine Zeit, diesem erschütternden Erlebnis nachzusinnen.) In der Gondel hielt sie ruhig und ernst den fremden Herrn im Auge und hatte den klaren Eindruck, daß er sich vor ihr scheue. Es befriedigte sie. Sie kamen zum Denkmal des Colleone und nun sprach der fremde Herr sie zum erstenmal an. «Wollen wir nicht hier hereingehn?» sagte er, auf ein Gebäude neben der dort stehenden Kirche weisend – «hier ist etwas besonders Schönes zu sehn.» Clarisse ahnte die Falle, welche ihr der Beamte der öffentlichen Sicherheit stellte. Aber dieser Verdacht hatte keinen Wert für sie, sozusagen keine kausale Valenz. «Ich bin müde und krank» sagte sie sich. «Er will mich ins Spital locken. Es ist unvernünftig von mir, daß ich folge. Aber mein Wahnsinn ist bloß, daß ich aus ihrer allgemeinen Ordnung herausfalle und meine Kausalität nicht die ihre ist: nur Störung in einer nebensächlichen von ihnen überschätzten Funktion. Ihr Verhalten ist krassester Unethizismus. (In ihren kausalen Beziehungen ist, was ich tue und wie ich es tue, krank; weil sie das andere nicht sehn.)»
    Als sie in das Haus eintrat, verteilte sie den Rest ihres Schmuckes und ihr Tuch an die Wärterinnen, die ihn entgegennahmen, sie ergriffen und an ein Bett schnallten. Nun begann Clarisse zu weinen, und die Wärterinnen sagten «Poverett!»
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123
    Nach der Internierung Clarisse als geknickter Prometheus
    [Früher Entwurf und Studie]
    Diesmal war es Wo., welcher sie abholte und zurückbrachte; er gab sie in der Klinik des Dr. Fried. ab. Bei der Einlieferung sah sie der diensthabende Arzt bloß an und ließ sie auf die Unruhige Abteilung schaffen.
    Gleich der erste Schrei eines Irren drängte ihr die Idee der Seelenwanderung auf; die Ideen der Wiedergeburt, des erreichbaren Nirwana lagen in der Nähe davon.
    «Mutter! — Mutter!» — so war der Ruf eines mit schrecklichen Wunden bedeckten Mädchens. Clarisse sehnte sich nach ihrer Mutter wegen der vielen Sünden, mit denen sie sie in die Welt entlassen hatte. Die Eltern saßen nun um den Tisch beim Frühstück, Blumen standen im Zimmer; mit ihrer aller Sünden war Clarisse bedeckt, sie fühlten sich wohl: ihre Seelenwanderung begann.
    Clarissens erster Gang führte in das Bad, da sie vom Transport aufgeregt war. Es war ein rechteckiger Raum (mit Fliesenboden und einem großen Wasserbecken), ohne Borde mit Wasser gefüllt, von der Türe führten Stufen hinein. Zwei verzehrte Körper hefteten sehnsüchtige Blicke auf sie und schrien nach

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