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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Erlösung. Es waren ihre besten Freunde Walter und Ulrich in Sündengestalt.
    In der Nacht lag der Papst neben ihr. In Frauengestalt. «Kirche ist schwarze Nacht,» sagte Clarisse zu sich «nun sehnt sie sich nach dem Weibe.» Es dämmerte schwach, die Kranken schliefen, da tastete der Papst an Clarissens Decke und wollte zu ihr ins Bett schlüpfen. Er verlangte nach seinem Weibe, Clarisse war es zufrieden. «Die schwarze Nacht sehnt sich nach Erlösung» flüsterte sie, während sie den Berührungen des Papstes nachgab. Die Sünde des Christentums war getilgt. König Ludwig von Bayern lag ihr gegenüber und so weiter. Es war eine Kreuzigungsnacht. Clarisse sah ihrer Auflösung entgegen; sie fühlte sich frei von jeder Schuld, ihre Seele schwebte licht und hell, indes die Visionen wie Gedichte zu ihrem Bett krochen und davon wieder verschwanden, ohne daß sie die Gestalten greifen und festhalten konnte. Am nächsten Morgen gewährte ihr Nietzsches Seele in Gestalt des Primärarztes den herrlichsten Anblick. Schön, gütig, voll tiefen Ernstes, sein buschiger Bart war ergraut, seine Augen blickten wie aus einer anderen Welt, nickte er ihr zu. Sie wußte, er war es, der sie in der Nacht die Sünde des Christentums zu tilgen geheißen hatte; heißer Ehrgeiz, wie der einer Schülerin, schoß in Clarisse auf.
    In den nächsten vierzehn Tagen erlebte sie Faust, «II. Teil». Drei Personen stellten Altertum, Mittelalter und Neuzeit dar. Clarisse trat sie mit den Füßen nieder. Das geschah in der Wasserzelle. Drei Tage lang. Schnatterndes Geschrei erfüllte den verschlossenen Raum. Durch den Dunst und tropischen Nebel des Bads krochen nackte Frauen wie Krokodile und Riesenkrebse. Schlüpfrige Gesichter schrien ihr in die Augen. Scherenarme griffen nach ihr. Beine schlangen sich ihr um den Hals. Clarisse schrie und flatterte über die Leiber, die Nägel ihrer Zehen in das feuchtglatte Fleisch schlagend, wurde gestürzt, erstickte unter Bäuchen und Knien, biß in Brüste, kratzte hängende Wangen blutig, arbeitete sich wieder hoch, stürzte ins Wasser und heraus, stürzte endlich ihr Gesicht in den zottlig nassen Schoß einer großen Frau und brüllte «auf der Muschel der Tritonin» einen Gesang (den Führergesang), bis ihre Stimme in Heiserkeit erstickte.
    Man darf nicht glauben, daß der Wahnsinn sinnlos ist; er hat bloß die trübe, verschwimmende, vervielfältigende Optik der Luft über diesem Bad, und zuweilen war es Clarisse ganz klar, daß sie zwischen den Gesetzen einer andern, aber durchaus nicht gesetzlosen Welt lebte. Vielleicht war der Gedanke, welcher ausdrücklich alle diese Gemüter beherrschte, nichts anderes als das Streben, dem Ort der Entmündigung und des Zwanges zu entrinnen, ein unartikulierter Traum des gegen seinen vergifteten Kopf sich auflehnenden Körpers. Während Clarisse in dem schlüpfrigen Knäuel der Menschen mit den Füßen die weniger behenden niedertrat, war in ihren Gedanken wie die weite weiße Luft vor einem Fenster ein «sündenloses Nirwana», die Sehnsucht nach einem schmerzenlosen und spannungslosen Ruhn und sie stieß wie ein schwirrendes Tier mit dem Kopf gegen die Wand, welche kranke Leiber um sie aufrichteten, planlos flatternd, von einem Augenblickseinfall zum andern gehetzt, während wie ein goldener Reif hinter ihrem Kopf, den sie nicht sehn und nicht einmal sich vorstellen konnte, der aber trotzdem da war, die Überzeugung schwebte, daß ein schweres ethisches Problem ihr auferlegt sei, daß sie Messias und Übermensch in einer Person sei, in die Ruhe eingehen werde, nachdem sie die anderen erlöst habe, und sie nur erlösen könne, indem sie sie niederzwang. Drei Tage und drei Nächte lang gehorchte sie dem unwiderstehlichen Willen der Irrengemeinschaft, ließ sich zerren und blutig kratzen, schlug sich auf den Fliesen des Bodens symbolisch ans Kreuz, stieß abgerissene, heisere, unverständliche Worte aus und erwiderte ebensolche Worte mit Handlungen, als ob sie sie nicht nur verstünde, sondern ihr Leben für die Mitteilung einsetzen wolle. Sie fragten nicht, sie brauchten keinen Sinn, der Worte in Sätze füllt und Sätze in den Keller des Kopfes, sie erkannten sich untereinander und unterschieden sich von den Pflegern oder jedem Fremden wie Tiere und ihre Ideen gaben eine wirre gemeinsame Linie, wie beim Aufstand einer Menge, wo keiner den andern versteht oder kennt, keiner mehr denkt als abgerissene Anfänge und Enden, aber gewaltige Spannungen und Schläge des

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