Gesammelte Werke
unmittelbaren Volksdemokratie im Sinne der
volonté de tous
vertreten, das unter den gegenwärtigen Bedingungen einer höchst arbeitsteiligen Gesellschaft nicht zu realisieren ist. Vollends wäre es bedenklich, wenn man in sogenannten kulturellen Fragen, etwa der Programmgestaltung des Rundfunks, sich von der Meinungsforschung passiv abhängig machte. Es gibt Bereiche des Lebens, in denen in der Tat das objektive Interesse der Gesamtheit im höheren Sinn, und oft auch einem recht handgreiflichen, nicht mit ihrem subjektiven Bewußtsein übereinstimmt, und im Geiste der Demokratie selber liegt es, daran zu denken, indem die Majorität nicht die Minorität terrorisieren darf. Wenn eine Volksabstimmung eine überwältigende Mehrheit dafür ergäbe, daß man im Radio an Musik nur noch Operetten überträgt, so wäre ein solches Ergebnis in Wahrheit antidemokratisch, indem es die Menschen noch weiter der Manipulation der Kulturindustrie ausliefert, die sie ohnehin bearbeitet, selbst wenn die Menschen selber danach verlangten. Nur im Bewußtsein aller Widersprüchlichkeiten unseres gesellschaftlichen Zustandes ist es möglich, der Meinungsforschung ihre echte demokratische Funktion zu geben. Sie will nicht mehr sein als ein Informationsmittel. Als solches aber kann sie höchst wichtige Aufschlüsse geben, und selbst jenes hypothetische Votum für die Operetten wäre, wenn es tatsächlich erfolgte, von großem diagnostischen Wert für den Zustand der Kultur und könnte damit wiederum zur positiven Veränderung beitragen.
Daß die Meinungsforschung ein demokratisches Potential darstellt, hatten auch die Nazis erfaßt. Ihnen waren Erhebungsmethoden verdächtig, die allzusehr an die freie und geheime Wahl erinnerten. Trotz der sogenannten Gleichschaltung von Presse, Film und Rundfunk, deren man sich mit ebenso viel Virtuosität wie Zynismus bediente, um die öffentliche Meinung zu manipulieren und die Parolen der Machthaber in die Ansichten der Volksgesamtheit umzulügen, schien man sich der Zustimmung der öffentlichen Meinung keineswegs so sicher zu sein, wie immer wieder beteuert wurde. Deshalb mußte die Anwendung einer Methode als staatsgefährlich untersagt werden, mit der die objektive, wahre Meinung der Öffentlichkeit hätte ermittelt werden können.
Gerade das aber, was ein totalitäres Regime ängstlich zu verhindern sich bemüht, die Feststellung und Publikation der öffentlichen Meinung, ist für ein demokratisches Staatswesen unentbehrlich. Die heute noch verhältnismäßig oft geäußerte, resignierende Feststellung, daß es ja doch keinen Zweck habe, sich um Politik zu kümmern, weil sich alle Entscheidungen über unseren Köpfen abspielten, wird an Suggestionskraft verlieren, je mehr es gelingt, den Willen der einzelnen nicht nur abstrakt, durch den Stimmzettel kundzutun, sondern konkret und differenziert. Wenn die Meinungsforschung in diesem Sinne, und in engstem Zusammenhang mit dem fortgeschrittenen Wissen von der Gesellschaft als ganzer, weiter sich entwickelt, dann wird sie sich wahrhaft als produktive Kraft erweisen.
1952
Zum Problem der Familie
1. Die Familie ist beides: Naturverhältnis und gesellschaftliches. Sie beruht auf der gesellschaftlichen Beziehung und der biologischen Abstammung, vielfach ohne Bewußtsein von Dauer, wird aber zu einem Bleibenden, Gegenständlichen, Verselbständigten – zur ›Institution‹. Die moderne französische Soziologie der Durkheimschule, insbesondere Marcel Mauss und Claude Lévy-Strauss, haben, im Gegensatz zu älteren Auffassungen, das für die Familie grundlegende Inzestverbot nicht aus sogenannten natürlichen oder psychologischen Gegebenheiten abgeleitet, sondern als »totales gesellschaftliches Phänomen« bestimmt, und zwar wesentlich aus den Bedürfnissen einer Tauschgesellschaft nach festen Eigentumsstrukturen. Treffen aber solche Ergebnisse zu, dann ist die Familie in der uns bekannten Gestalt selbst gesellschaftlich vermittelt und keine bloße Naturkategorie. Daher unterliegt sie der gesellschaftlichen Dynamik und darf von der Wissenschaft nicht hypostasiert werden. Die gesellschaftliche Dynamik der Familie ist doppelten Charakters. Einerseits tendiert die steigende Vergesellschaftung, ›Rationalisierung‹, ›Integration‹ aller menschlichen Beziehungen in der späten, voll entfalteten Tauschgesellschaft dazu, das gesellschaftlich gesehen irrational-naturwüchsige, partielle Element der familialen Ordnung so weit wie nur möglich
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