Gesammelte Werke
überflüssige Zutat erfahren. Sie wird so wenig mehr gefürchtet wie geliebt: nicht bekämpft, sondern vergessen und eben noch geduldet von denen, die weder Grund noch Stärke zur Resistenz haben.
4. Die Familie kann ihrem Begriff nach sich ihres naturalen Elements, des biologischen Zusammenhangs der Mitglieder, nicht entäußern. Aber von der Gesellschaft her erscheint jenes Element als heteronom, gewissermaßen als ein Ärgernis, weil es in der Tauschbeziehung nicht ganz aufgeht, obwohl auch der Sexus dem Tauschverhältnis, der Vernunft des give and take, sich anähnelt. Andererseits läßt weniger als je das naturale Element sich unabhängig von gesellschaftlich-institutionellen behaupten. Der Familie ergeht es daher zuweilen in der späten bürgerlichen Gesellschaft nicht viel anders als der Leiche, die inmitten der Zivilisation an das Naturverhältnis mahnt, und die man entweder hygienisch verbrennt oder gar kosmetisch so herrichtet, wie es in Evelyn Waughs »Loved One« dargestellt ist. Der Kultus der Familie, zumal der »züchtigen Hausfrau und Mutter der Kinder«, hat immer schon den in der Realität Unterdrückten und zu Opfern Gezwungenen in der Ideologie den Heiligenschein freiwilliger Opferbereitschaft und Güte verliehen. Aber wie jede eigentliche Ideologie mehr ist als bloß Lüge, so auch diese. Nicht bloß ließ sie den Unterworfenen Ehre widerfahren, verlieh ihnen eine Würde, die schließlich als Menschenwürde zu ihrer eigenen Emanzipation drängte, sondern es konkretisierte sich damit auch die Idee realer Gleichheit der Menschen, die zum Begriff des realen Humanismus hintreibt. Die Krisis der Familie in ihrer gegenwärtigen Gestalt ist darum zugleich eine der Humanität. Während die Möglichkeit der vollen Verwirklichung des Menschenrechts, einer Emanzipation der Frauen kraft der Emanzipation der Gesellschaft anstelle bloßer Imitation des patriarchalen Prinzips, absehbar wird, ist nicht minder absehbar der Rückfall in die Barbarei, in jenen bloßen Naturstand, der am Ende der Familie allein noch übrig zu bleiben scheint, ins Chaos.
5. Der Verfall der Familie ist Ausdruck einer großen gesellschaftlichen Tendenz, kein ephemeres zeitgenössisches Phänomen. Das unbeschreibliche Aufsehen, das vor 70 Jahren Ibsens Nora machte, läßt sich nur mit dem Schock erklären, den das Bild der Frau ausübte, die ihren Mann und ihre Kinder verläßt, um nicht länger bloßes Objekt patriarchaler Verfügung zu sein, sondern über sich selbst zu bestimmen. Damals schon hat die Entfesselung der wirtschaftlichen Produktivkräfte, die den Hintergrund der Ibsenschen Emanzipationsdramatik bildet, die Familie aufs äußerste bedroht. Daß sie sich trotzdem am Leben erhielt, ist vorab der perennierenden Irrationalität des Prinzips der rationalen Gesellschaft selber zuzuschreiben, das der Hilfe irrationaler Institutionen wie der Familie bedurfte, um den Schein seiner natürlichen Rechtfertigung zu erwirken. Aber die Dynamik der Gesellschaft hat es der ihr ebenso immanenten und sie selbst zusammenhaltenden wie mit ihr unvereinbaren Familie nicht gestattet, unangefochten zu überdauern. In Deutschland hat, mindestens seit der ersten Inflation und der beschleunigten Expansion der Berufsarbeit der Frauen, die Familie ihre Krise erreicht. Falsch ist es daher, wie in einem vielgelesenen amerikanischen Buch der patriarchalen deutschen Familienstruktur die Schuld am Nationalsozialismus aufzubürden. Zu schweigen von der grundsätzlichen Unzulänglichkeit solcher psychologischer Erklärungen, konnte Hitler keineswegs an eine fest gefügte Tradition der Familienautorität mehr anknüpfen. Gerade in Deutschland waren Tabus wie das der Virginität, der Legalisierung des Zusammenlebens, der Monogamie nach 1918 vermutlich viel gründlicher erschüttert als in den katholisch-romanischen und den von Puritanismus und irischem Jansenismus durchdrungenen angelsächsischen Ländern, vielleicht weil in Deutschland das Gedächtnis an archaische Promiskuität hartnäckiger überlebte als in der durch und durch bürgerlichen westlichen Welt. Viel eher bedeutet, in Kategorien einer Sozialpsychologie der Familie, das Dritte Reich den übertreibenden Ersatz für eine nicht länger existente Familienautorität, als daß es an diese sich anschlösse. Wenn die Theorie aus Freuds »Massenpsychologie und Ich-Analyse« zutrifft, der zufolge die Vaterimago auf sekundäre Gruppen und deren Häupter übertragen werden kann, dann bietet das
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