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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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Rede und Antwort stehen zu müssen, und erlaubt es den Diskussionsteilnehmern, ihre Meinungen zwanglos im Gespräch zu äußern. Sie werden nicht direkt befragt, kein Druck wird auf sie ausgeübt, zu den erörterten Problemen sofort Stellung zu nehmen, sondern sie können sich zum Wort melden, wann es ihnen beliebt. Die Gefahr ›falscher‹ Antworten wird erheblich dadurch reduziert, daß die Teilnehmer sich in der Diskussionsgruppe in einer Situation befinden, die einigermaßen den Bedingungen entspricht, unter denen sie sich in der Realität ihre Meinung bilden.
    An einem Beispiel möchte ich Ihnen zeigen, worin die Vorteile des Gruppendiskussionsverfahrens gegenüber der Interviewmethode bei der Untersuchung von Fragen bestehen, die stark affektbesetzt sind. Über das Problem der Wiederbewaffnung Deutschlands, das etwa seit dem Sommer 1949 leidenschaftlich erörtert wurde und seit Ausbruch des Koreakonfliktes zu den aktuellsten Gegenständen der öffentlichen Meinung geworden war, wurden von den sich der Interviewmethoden bedienenden Instituten regelmäßig Umfragen abgehalten. Bis zum Frühjahr 1951 hatten diese das Ergebnis, daß die überwältigende Mehrheit eine Wiederbewaffnung Deutschlands rundweg ablehnte. Die während derselben Zeit in den Gruppendiskussionen zunächst geäußerten Meinungen entsprachen diesen Ergebnissen durchaus. Im Verlaufe der Diskussionen indessen änderte sich das Bild ganz erheblich. Nachdem alle Einwände und Vorbehalte zur Sprache gebracht worden waren, ließ sich darauf schließen, daß der Prozentsatz der wirklichen Gegner der Remilitarisierung wesentlich geringer war, als es die erste Reaktion vermuten ließ. Man konnte daher bereits im Herbst des Jahres 1950 annehmen, daß die Ergebnisse der üblichen Umfragen nicht oder mindestens nicht ganz zutrafen. Die Richtigkeit dieser Vermutung bestätigte sich inzwischen, nachdem sich jene schon vor eineinhalb Jahren in den Gruppendiskussionen deutlichen Tendenzen der Meinungsentwicklung so weit konkretisiert haben, daß sie auch mit den üblichen Interviewmethoden zu messen sind.
    Gewiß läßt sich nun die Gefahr nicht leugnen, daß die Ergebnisse von Meinungsforschung, durch die bloße Tatsache ihrer Veröffentlichung, die Meinung im Sinne blinder Massenreaktionen zu steuern vermögen; daß die einzelnen sich also so entscheiden, wie sie glauben, daß es die anderen auch tun, und es mit den stärksten Bataillonen halten. Auf diese Gefahr ist gerade in Amerika hingewiesen worden. Man spricht dort vom sogenannten Bandwagon-Effekt, dem Hinterherlaufen hinter einer Sache, die sich so präsentiert, als hätte sie bereits die Oberhand gewonnen. Angesichts der Möglichkeit des Mißbrauchs in dieser Richtung ist nicht nur strengste wissenschaftliche und allen Sachverständigen offene Kontrolle der Meinungsforschungsverfahren geboten, sondern auch eine Auslese der damit Befaßten, die es verhindert, daß Inkompetente oder propagandistischer Absichten Verdächtige als Leiter angeblicher Befragungen Einfluß gewinnen. Grundsätzlich aber ist daran zu erinnern, daß es in einer modernen Demokratie, im Gegensatz etwa zur griechischen Polis, ganz unmöglich wäre, zu allen wichtigen politischen Fragen Volksentscheide herbeizuführen, ganz zu schweigen von zahllosen anderen Problemen von öffentlichem Interesse. Der einzelne Bürger kann nur im Abstand von mehreren Jahren bei der Wahl seinen politischen Willen bekunden. Vor dem Aufkommen der Meinungsforschung ließ sich daher über die politische öffentliche Meinung etwas Verbindliches nur unmittelbar nach einer Wahl aussagen. Auch bei der täglichen Stellungnahme von Presse und Rundfunk zu aktuellen Problemen handelt es sich um die in der Öffentlichkeit und mit dem Gedanken an diese verbreitete Meinung einzelner Individuen oder Institutionen. Darum wird jeder, dem es ernst ist mit dem Willen, unser ganzes Leben mit demokratischem Geist zu erfüllen, trotz aller Vorbehalte gutheißen müssen, daß man über die Stellung der öffentlichen Meinung Konkreteres und vor allem Objektiveres ermittelt, als es der oft willkürlichen und zufälligen Beobachtung möglich wäre.
    Man soll sich aber hüten, von den Regierungen zu fordern, daß sie sich jederzeit und bei der Entscheidung aller Fragen ausschließlich und unmittelbar nach dem in Umfrageergebnissen sich darstellenden Votum der öffentlichen Meinung richten. Das hieße, das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung verleugnen und ein Ideal der

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