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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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Hitlerische Reich das Modell solcher Übertragung, und die Gewalt der Autorität ebenso wie das Bedürfnis nach ihr wurden geradezu durch deren Absenz im Deutschland der Weimarer Republik herbeizitiert. Hitler und die moderne Diktatur sind in der Tat, den Terminus des Psychoanalytikers Paul Federn zu brauchen, das Produkt einer »vaterlosen Gesellschaft«. Wie weit allerdings die Übertragung der väterlichen Autorität auf das Kollektiv die innere Zusammensetzung der Autorität verändert; wie weit sie noch den Vater und nicht bereits das repräsentiert, was Orwell den Großen Bruder nannte, steht dahin. Unsinnig wäre es jedenfalls, die Krise der Familie mit der Auflösung der Autorität als solcher gleichzusetzen. Die Autorität wird immer abstrakter; damit aber auch immer unmenschlicher und unerbittlicher. Das ins Gigantische vergrößerte, kollektivierte Ich-Ideal ist das satanische Widerspiel eines befreiten Ichs.
    6. Soweit der Familie auch heute noch reale Funktionen zukommen, behauptet sie ihre Resistenzkraft. So ist es in größeren Familien, in denen Vater, Mutter und ältere Kinder etwas verdienen, billiger, gemeinsamen Haushalt zu führen, als wenn jeder bloß für sich sorgte; darum bleiben sie unterm gemeinsamen Dach, und auch ein innerer Zusammenhalt ist gewahrt. Diese Vernunft der Familie ist aber beschränkt; sie erstreckt sich in der Stadt fast nur noch auf die Konsumsphäre. Auf dem Lande, wo Arbeitskräfte aus der Familie billiger sind als freie Lohnarbeit, beginnt, nach den Ergebnissen zahlreicher Untersuchungen, der Nachwuchs gegen seine ›Unterbezahlung‹ für die Arbeit im Familienbesitz zu revoltieren und in andere Berufe abzuwandern. Jedenfalls unterliegt die Familie, auch die noch einigermaßen intakte, tiefen strukturellen Veränderungen. Ein Soziologe hat treffend formuliert, ihre Form sei aus der des Nestes zu der der Tankstelle geworden. Man wird das vielleicht am drastischsten an der Funktion der Erziehung wahrnehmen können. Sie wird offenbar von der Familie nicht mehr angemessen erfüllt, weil ihr die innere Überzeugungskraft mangelt, welche die Kinder dazu vermochte, mit den Bildern ihrer Eltern wahrhaft sich zu identifizieren. Wenn man heute immer wieder auch über Kinder aus gehobenen Schichten hört, sie hätten von zu Hause ›nichts mitbekommen‹, und wenn man als Hochschullehrer beobachten muß, wie wenig an substantieller, wirklich erfahrener Bildung vorausgesetzt werden kann, so liegt das nicht etwa an der vorgeblichen Nivellierung der demokratischen Massengesellschaft und ganz gewiß nicht an fehlender Information, sondern daran, daß die Familie das umhegende, bergende Moment eingebüßt hat, das einzig ein Talent in der Stille zu bilden vermochte, während die Tendenz dahin geht, daß das Kind solcher Bildung als ungesunder Introversion sich entzieht und sich lieber nach den Anforderungen des sogenannten realen Lebens einrichtet, längst ehe diese an es überhaupt herangebracht werden. Das spezifische Moment der Versagung, das heute die Individuen verstümmelt und sie an der Individuation verhindert, ist kaum mehr das familiale Verbot, sondern die Kälte, die zunimmt, je löchriger die Familie wird.
    7. Unter extremen Bedingungen und deren prolongierten Folgen, etwa bei Flüchtlingen, hat sich die Familie trotz allem als stark erwiesen, vielfach sich als Kraftzentrum des Überlebens bewährt. Zurückgeworfen auf die primitivsten naturalen Bedingungen der Selbsterhaltung, zeigte sich die Familie als angemessene Form von deren Realisierung. Aber wie dies Zurückgeworfensein dem Stand der gesellschaftlichen Produktivität aufs äußerste widerspricht oder vielmehr eine der grausamen Gestalten des Preises ist, den die Menschheit für ihren Fortschritt zu bezahlen hat, so ist es wohl auch um eine Renaissance der Familie bestellt, die solchem Rückschritt sich verdankt. Sie ist selbst ein Regressionsphänomen, vergleichbar der rührend-ohnmächtigen Gebärde, mit der der Sterbende nach der Mutter tastet. Auf solche Regression als auf eine regenerative Kraft sich zu verlassen, wäre wohl ähnlich, wie wenn man sich von der Anrufung Gottes durch Soldaten in äußerster Lebensgefahr eine religiöse Erneuerung erhoffte. Im Gegenteil: die Rechtfertigung des weithin irrationalen Naturverhältnisses der Familie durch eine Vernunft, die demonstriert, daß es so leichter falle zu überleben, greift in Wahrheit eben als rationale die irrationale Substanz selbst an, die sie

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