Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
Vom Netzwerk:
zurückzudrängen. Auf der anderen Seite jedoch rebellieren, bei solcher fortschreitenden Vergesellschaftung, die stärker stets kontrollierten Triebe stärker stets gegen ihre institutionelle Kontrolle und brechen an der Stelle des geringsten Widerstandes durch. Das ist aber, unter den Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft, die Familie geworden. Sie findet sich heute gleichermaßen angegriffen vom zivilisatorischen Fortschritt und vom Sexus, den der sakrale Anspruch der Ehe kaum länger zu bändigen vermag.
    2. Die Krisis der Familie läßt sich nicht als ein bloßes Symptom von Verfall und Dekadenz abtun. Der Familie wird die Rechnung präsentiert nicht bloß für die rohe Unterdrückung, die der schwächeren Frau und vollends den Kindern bis an die Schwelle des neuen Zeitalters vom Familienoberhaupt so vielfach widerfuhr, sondern auch für ökonomisches Unrecht, die Ausbeutung hauswirtschaftlicher Arbeit in einer sonst den Marktgesetzen gehorchenden Gesellschaft, und für all jene Triebverzichte, welche die Familiendisziplin den Mitgliedern auferlegt, ohne daß im Bewußtsein der Familienmitglieder diese Disziplin stets sich rechtfertigte und ohne daß sie mehr recht an die Aussicht glaubten, für dergleichen Verzichte etwa durch gesichertes und tradierbares Eigentum entschädigt zu werden, wie es auf der Höhe des liberalen Zeitalters der Fall zu sein schien. Die Lockerung der Familienautorität, zumal als eine der Sexualtabus, hat den Grund, daß die Familie den Lebensunterhalt nicht mehr zuverlässig garantiert, und daß sie das Individuum gegen die immer übermächtiger andrängende Umwelt nicht mehr zureichend schützt. Die Äquivalenz von dem, was die Familie erheischt, und dem, was sie leistet, ist bedroht. Jeder Appell an die positiven Kräfte der Familie als solcher hat deshalb etwas Ideologisches, weil die Familie das nicht mehr vollbringt, und aus ökonomischen Gründen nicht mehr vollbringen kann, was ihr nachgerühmt wird.
    3. Als gesellschaftliche Kategorie war die Familie stets, in besonderem Maße aber seit dem Beginn des bürgerlichen Zeitalters, Agentur der Gesellschaft. Sie allein hat es vermocht, in den Individuen jenes Arbeitsethos, jene Identifikation mit der Autorität hervorzubringen, deren es in der Feudalzeit kaum noch bedurft hatte und an deren Stelle damals die unmittelbare Herrschaft über Hörige fungierte. Indem die Familie die Anforderungen der Gesellschaft ins Innere der ihr Anvertrauten übersetzte und zu deren eigener Sache machte, hat sie die Menschen ›verinnerlicht‹. Der Begriff des Individuums in dem uns vertrauten Sinn ist denn auch von dem der Familie kaum zu trennen. Ebensowenig aber läßt die Krisis des Individuums heute, der Ersatz seiner Autonomie durch die Anpassung an Kollektive, die Familie unberührt. Widerspruch herrscht zwischen dem heute sich ausbreitenden Menschentypus und der Form der Familie. Der amerikanische Mutterkult, von Philip Wylie »momism« genannt, bedeutet nicht sowohl den Durchbruch urtümlich familialer Kräfte, als eine fragwürdige Reaktionsbildung auf die Erfahrung des Hinfälligen familialer Verhältnisse, die sich eben noch am mother-day ihr kümmerliches Denkmal setzen. Konventionelle Übertreibung und emotionale Kälte entsprechen einander. Gleich allen Vermittlungsformen zwischen dem biologischen Einzelwesen, dem Atom Individuum, und der integralen Gesellschaft, wird auch der Familie ihre Substanz von jener entzogen, ähnlich wie der wirtschaftlichen Zirkulationssphäre, oder der mit der Familie aufs tiefste verbundenen Kategorie der Bildung. Als Vermittlungskategorie, die in Wahrheit, wenn auch ohne Bewußtsein davon, vielfach bloß das Geschäft des großen Ganzen bewirkte, hatte die Familie neben ihrer eminenten Funktion stets schon etwas Scheinhaftes. Und die ganze bürgerliche Gesellschaft hindurch ist gegen die Familie als Ideologie Skepsis wach geblieben, zumal soweit sie an die Individuen gesellschaftliche Forderungen heranbrachte, die vom Individuum aus willkürlich und unvernünftig dünkten. Diese Skepsis hat erstmals in der Jugendbewegung ihren wie sehr auch dumpfen gesellschaftlichen Ausdruck gefunden. Heute gewinnt die Negation der Familie real die Oberhand. Eigentlich gibt es bereits gar nicht mehr den Konflikt zwischen der kraftvollen Familie und dem nicht minder starken Ich, sondern gleich schwach klafft beides auseinander. Familie wird nicht sowohl mehr als Macht der Unterdrückung wie als Residuum, als

Weitere Kostenlose Bücher