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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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glorifiziert. Solche Argumentationsweise müßte sich beugen, wenn andere gesellschaftliche Formen als die Familie dem Überleben günstiger sind als die Familie, und deren Ewigkeit preisgeben. Am sakramentalen Charakter der Familie zweifeln, aber sie advozieren, weil ihre Heiligkeit gut für die Menschen sei, ist wenig überzeugend. Im übrigen führen Untersuchungen wie die Darmstädter Gemeindestudie * zur Annahme, daß die insgesamt erschütterte Institution der Familie durch die Solidarität des Notstandes nur für kurze Frist gefestigt ward. Die Zahl der Scheidungen ebenso wie die der sogenannten ›unvollständigen‹ Familien liegt weit über dem Vorkriegsstand. Der Hang, sich auf eine ›Kleinfamilie‹ zu beschränken – Vorbedingung der kinderlosen Ehe, die man gemeinhin als Symptom des Verfalls der Familie betrachtet – gilt nicht mehr bloß für die Oberschicht, sondern läßt sich in der gesamten Bevölkerung beobachten. Auf dem Lande scheint die archaische Mehr-gegenüber der Ein-Generations-Familie merklich zurückzutreten. Überall werden die traditionellen Elemente des Familienverhältnisses allmählich von ›rationalen‹ verdrängt. Je mehr die Familie in einen bloßen Zweckverband übergeht, desto mehr büßt sie jene Züge der ›primären‹ Gruppe ein, die man ihr bis zur jüngsten Entwicklung als invariant zuschrieb. Manche Phänomene der Kriegs- und Nachkriegsjahre haben alldem gegenüber fraglos retardierend gewirkt; insgesamt aber gilt auch für die Familie, daß extreme Situationen gesellschaftliche Gesamttendenzen eher verstärken; daß in ihnen vielfach gleichsam von außen mit einem Schlag durchgesetzt wird, was von innen langsam sich bildete.
    8. Spekulationen über die Zukunft der Familie sind fast prohibitiven Schwierigkeiten ausgesetzt. Ist in der Tat die Familie in den gesamtgesellschaftlichen Prozeß derart verflochten, so wird ihr Schicksal von diesem abhängen und nicht von ihrem Eigensein als dem einer sich selbst genügenden sozialen Form. Überdies darf nicht einmal der Begriff der immanenten Entwicklungstendenz, der auf die Familie angewandt ward, hypostasiert werden. So wie etwa ökonomische Entwicklungen eine andere Richtung als die ihrer je eigenen Gesetzlichkeit zu nehmen vermögen, sobald das bewußtlose Kräftespiel der Wirtschaft zum Guten oder Schlechten planvoll gesteuert wird, ist es denkbar, daß, etwa durch abermals hereinbrechende totalitäre Diktaturen, der ›Trend‹ der Familie sich ändert, sei es restaurativ, sei es auch durch beschleunigte Auflösung zugunsten radikaler etatistischer Kontrolle, die keine Zwischeninstanz zwischen sich und den sozialen Atomen mehr duldet. Sogar vor der Kombination der beiden unvereinbaren Möglichkeiten müßte ein totaler Staat nicht zurückschrecken. Soviel scheint sicher, daß die Bewahrung alles dessen, was an der Familie als human, als Bedingung von Autonomie, Freiheit und Erfahrung sich bewährt hat, sich nicht einfach, durch Preisgabe der überholten Züge, konservieren läßt. Daß eine Familie der ›Gleichrangigkeit‹ inmitten einer Gesellschaft sich verwirklicht, in der die Menschheit nicht selbst mündig, die Menschenrechte nicht in weit fundamentalerem und universalerem Sinne hergestellt wären, ist wohl illusionär. Man kann nicht die Schutzfunktion der Familie erhalten und ihre disziplinären Züge beseitigen, solange sie ihre Angehörigen vor einer Welt zu beschützen hat, der der vermittelte oder unmittelbare gesellschaftliche Druck inhäriert und die ihn all ihren Institutionen mitteilt. Die Familie leidet an demselben wie alles Partikulare, das nach seiner Befreiung drängt: es gibt keine Emanzipation der Familie ohne die Emanzipation des Ganzen. Wohl aber ist in einer freien Welt eine Familie aus Freiheit vorstellbar, gesellschaftliche Sublimierung des bloßen Naturverhältnisses in dem, was im Wilhelm Meister der »bestätigte Gedanke der Dauer« heißt; eine Form nahen und glückvollen Zusammenlebens Einzelner, die vor der Barbarei behütet, ohne der Natur, die in ihr aufgehoben ist, Gewalt anzutun. Eine solche Familie aber läßt sich so wenig wie irgendeine andere soziale Utopie ausmalen.
     
    1955
     
     
Fußnoten
    *
Vgl. unten, S. 605ff.
     
Über Technik und Humanismus *
     
    Ehe ich versuche, in aller Kürze auf die Fragen einzugehen, die Sie an Ihrem Dies academicus beschäftigen, möchte ich ein paar Worte vorausschicken, um die Verständigung zwischen uns zu erleichtern. Die Mehrheit

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