Gesammelte Werke
die Scharniere oder die Schalthebel sind« (87).
Wieviel die Lektüre hilft, kann ich mit einem Detail bezeugen. Ich fühlte längst Ekel vor dem Ausdruck »Zum Zuge kommen« und suchte ihn einigermaßen zu präzisieren. Erst durch Korns Domestikationskapitel ist mir das Unwesen ganz durchsichtig geworden: daß die Welt in diesem Ausdruck als geschlossen, wie eine Schach- oder Damepartie vorgestellt wird, in der jedem die Figuren gegeben, die Züge weitgehend vorgezeichnet sind und in der das Leben des Individuums wesentlich nur noch davon abhängt, ob es überhaupt dran kommt; die minimale Chance hat, ohnehin Unvermeidliches auszuführen, nicht aber von seinem Willen, seiner Freiheit und Spontaneität. Insofern der Ausdruck »zum Zuge kommen« damit einen realen, in weitem Maß verwirklichten Zustand kodifiziert, hat er seine Wahrheit, widerwärtig aber bleibt der Sprachgestus, der diesen Zustand womöglich noch billigt und, indem er souveränen Überblick über jene prästabilierte Partie beansprucht, in der die Theorie der Eröffnung oder des Endspiels alle Züge vorsieht, bekundet, es gehe in Ordnung, je nachdem, ob einer zum Zuge kommt oder nicht.
Nichts an Wünschen wüßte ich dem Buch hinzuzufügen als den bescheidenen, daß es in einer neuen Auflage Notiz nehme von einigen meiner sprachlichen Steckenpferde, wie dem angeberischen Rätselwort »in etwa«; dem »Vorgang«, der das Gegenteil eines solchen, nämlich das zur Information für eine Entscheidung angeblich erforderliche Aktenbündel bedeutet, oder daß es eingehe auf die Physiognomik hexenhaft freundlicher Wendungen wie »auf Sie zukommen« oder »Sie ansprechen«. In dem ordo der Unordnung, der negativen Sprachontologie, die Korn entwirft, ist ohne Frage all dies ebenfalls eingeplant.
1958
Abstrakt oder konkav?
Allgemein bekannt dürfte der Satz sein, daß der Unterschied zwischen konvex und konkret der gleiche ist wie der zwischen Pettenkofer und Patentkoffer; daß aber andererseits die Abstraktheit sich von der großen Powerté entstammt, das hat doch wohl erst jener denkgewaltige Anonymus entdeckt, der, mißtrauisch gegen die geistige Kapazität der anderen, aber voll Vertrauen zur eigenen, einer ernsten Ausstellung die Gebrauchsanweisung beigab:
»Abstrakte Kunst?«
Er scheint ein Mann der radikalen Frage zu sein, die ja heute jeder an alles stellt. Er fragt zunächst ganz radikal: »Was ist Kunst?« Und antwortet lapidar: »Kunst ist wahrnehmbare Schöpfung eines
Menschen seiner Zeit
unter größtmöglicher Anwendung des
Könnens
seiner Zeit. Wer sich nicht das Äußerste an Erreichbarem des Könnens seiner Zeit« – auch des grammatischen? – »anzueignen bereit ist, wer mit dem bereits länger Erreichten vorlieb nimmt, wird herausgeschleudert aus der Bahn des vorwärtsstrebenden Lebens.« Wenn Sie danach noch nicht wissen, was Kunst ist, so werden Sie sich wenigstens daran erinnern, daß sie vom Können herkomme. Aber mit diesem Resultat ist der Frager nicht zufrieden und wird darum trotz größtmöglichen Könnens sogleich herausgeschleudert aus der Bahn. Er fragt nämlich weiter: »Was ist abstrakt?« Und da gelingt ihm, einem Onkel Bräsig des Konstruktivismus, das Kunststück der Antwort per exclusionem: »Alles, was nicht konkret ist.«
Der gordische Knoten ist zerhauen; nun macht er sich auf, das restliche Asien zu erobern: »Was ist abstrakte Kunst?« Als ein Mann des vorwärtsstrebenden Lebens summiert er nicht etwa die beiden ersten Thesen, in der Form: »Abstrakte Kunst ist wahrnehmbare Schöpfung eines Menschen seiner Zeit, die nicht konkret ist« – sondern bedrängt von der Fülle der Gesichte spinnt er sogleich einen neuen Faden an, diesmal nun einen konkreten: »Ein, vielleicht journalistisch entstandener Fehlbegriff!« Damit sollte die Sache zu Ende sein, und man bedauert schon die Denkkraft, die sich in den voraufgehenden subtilen Distinktionen vergeudete. Jedoch der Frager hat einen langen Atem und holt zu einer Schlußformel aus, deren Fehlbegriffe wenigstens nicht journalistisch entstanden, sondern für alle Ewigkeit gewonnen sind: »Was will die so benannte Kunstrichtung? Sie erstrebt einen zwar durchaus konkreten (– natürlich greifbaren), optisch aber eigengesetzlichen Bildbau, für ein abstraktes Thema.« Ob das nun abstrakt oder konkret ist, weiß ich nicht; aber mir wird konkav vor den Augen. Ich sehe den Frager vor mir, wie er von den Bildern die Ölfarbe mit den Fingernägeln abkratzt, um
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