Gesammelte Werke
ist. Die Tuchfühlung mit den Fakten, die Blickrichtung auf präzis gegenwärtige, spezifische Ereignisse, vermittelt eine lebendige, unfiltrierte Vorstellung von den Ansichten, vielleicht auch Verhaltensweisen der Befragten. Die ständige Alternative von Vor- und Nachteilen, die in der empirischen Sozialforschung gegeneinander abzuwägen sind, betrifft auch das Quickie: was den Resultaten an Verbindlichkeit abgeht, dafür entschädigt in gewissem Sinn, und in Grenzen, daß sie mehr von jenen Momenten der Erfahrung retten, die sich zu verflüchtigen drohen, sobald die Forschungsinstrumente methodisch geschliffen werden.
Die empirische Sozialforschung setzt sich vielfach, und nicht ohne Grund, dem Verdacht aus, durch ihren Zuschnitt auf Quantifizierung qualitative Differenzen einzuebnen und bei der bedeutungslosen Selbstverständlichkeit des Abstrakten zu stranden. Leicht wird darüber vergessen, daß sie ebenso das Umgekehrte zu bewirken vermag: die kritische Differenzierung theoretischer Erwartungen, sei es auch solcher von größter Plausibilität. Die Publikation bietet dafür einige Beispiele. So war die Studie über den Metallarbeiterstreik ausgegangen von der – analog zu amerikanischen Erfahrungen gebildeten – Hypothese, daß in den nicht zur Arbeiterschaft rechnenden Teilen der deutschen Bevölkerung ein Potential von Rancune gegen die Gewerkschaften und deren vorgeblichen Eigennutz vorhanden sei. Die Untersuchung hat diese Hypothese in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht bestätigt. – Oder: die oft geäußerte Vermutung, gänzlich Unpolitische neigten eher zu autoritären Reaktionen als politisch Interessierte, war, nach gemeinsamer Interpretation der drei Studien, nicht aufrechtzuerhalten.
Ein prägnantes Ergebnis der drei Studien ist, daß zwar soziale Herkunft, vor allem die durch sie vermittelten Bildungschancen, nicht des Einflusses auf die politische Mentalität der deutschen Bevölkerung entraten, daß derlei Differenzen jedoch zurücktreten hinter auffälliger Uniformität in den politischen Reaktionen. In allen sozialen Schichten und Bildungsgruppen erwies sich die Reichweite politischer Interessen als begrenzt: soweit es nicht um krasse, durchsichtige Schichteninteressen geht, erscheint den meisten die Sphäre der Öffentlichkeit als ihrer individuellen Erfahrung entrückt; es lohne sich nicht, für sie sich zu engagieren. Sowohl bei der Spiegel-Affäre wie beim Metallarbeiterstreik spielten Schichtendifferenzen für das Urteil der Befragten keine erhebliche Rolle. Auch an der Eichmann-Studie ist hervorzuheben, daß das für antisemitische Vorurteile anfällige Potential sich relativ gleichmäßig auf alle Berufs- und Bildungsgruppen verteilt. – Zudem lassen sich wohl eher bei Angehörigen der oberen Mittelschicht und solchen aus Gruppen der sogenannten ›Gebildeten‹ – mit Abitur oder Hochschulabschluß – konkrete oder doch zumindest vage Vorstellungen von den veränderten Lebensbedingungen unter einer Diktatur vermuten. Aber auch hier ist der Anteil derer nicht unbeträchtlich, die politische Regierungsformen für auswechselbar halten, ohne der Konsequenzen eines etwaigen Umschwungs zugunsten totalitärer Herrschaft innezuwerden. Allerorten zeichnet sich die mangelnde Einsicht in die Verflochtenheit von privater Existenz und politischem Prozeß ab.
Die Synopsis der Untersuchungen dürfte, trotz aller Vorsicht beim Wägen der Resultate, den bescheiden angelegten Studien doch vielleicht einiges mehr an Relevanz verleihen, als jeder einzelnen zuzutrauen wäre.
November 1966
Fußnoten
*
Von Adorno und Ludwig von Friedeburg unterzeichnet.
Joachim E. Bergmann, Die Theorie des sozialen Systems von Talcott Parsons. Eine kritische Analyse. Frankfurt a.M. 1967. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 20.)
*
Das Bergmannsche Buch, eine Marburger Dissertation, wird nicht darum in die »Frankfurter Beiträge zur Soziologie« aufgenommen, weil sein Autor aus dem Institut für Sozialforschung hervorging und nach seiner Promotion dorthin zurückkehrte. Bestimmend ist seine Aktualität. Unverkennbar üben die Werke Talcott Parsons' erhebliche Attraktion auch auf die deutsche Soziologie, vor allem ihre jüngeren Exponenten, aus. Sie wird reflektiert noch von dem, was bislang in Deutschland Kritisches über Parsons publiziert wurde.
Das Interesse an Parsons' Theorie speist sich aus heterogenen Motiven. Zunächst wäre an ihre Funktion für die Fachdisziplin der
Weitere Kostenlose Bücher