Gesammelte Werke
angehört. Vielmehr steht dahinter die Absicht, die heute vorherrschenden, an der gängigen philosophischen Anthropologie ausgerichteten Pestalozzideutungen zu revidieren; etwa die von W. Bachmann, der, fundamentalontologisch gerichtet, den »Standort« Pestalozzis als »überhaupt nicht in dieser Welt« ansetzen möchte. Im Gegensatz zu derlei Bestrebungen ist Rang darauf bedacht, Gestalt und Werk Pestalozzis in die konkrete Geschichte: in die Gesellschaft selber zurückzuholen. Seine Aufmerksamkeit gilt dem Politiker nicht weniger als dem Pädagogen. Ausgegangen wird vom Verhältnis Pestalozzis zur Französischen und Helvetischen Revolution. Dabei läßt die Untersuchung den individuell-biographischen Aspekt hinter sich: sie reflektiert ständig auf die ökonomisch-gesellschaftliche Situation der Schweiz um die Wende zum neunzehnten Jahrhundert. Pestalozzis privater Charakter wird auf den sozialen bezogen.
Es entfällt der fatale Anspruch, um jeden Preis die ›Einheit‹ von dessen Entwicklung zu demonstrieren. Eine solche wird so wenig unterstellt, wie die objektive Tendenz, an der Pestalozzi sich abarbeitete, einstimmig und bruchlos ist. Widersprüche im Leben und im Werk Pestalozzis werden in der Arbeit durch die Konfrontation von Äußerungen aus verschiedenen Lebensperioden überhaupt erst ihrer Tiefe nach sichtbar gemacht. Anstatt sie einzuebnen, einen ›uneigentlichen‹ Politiker dem ›eigentlichen‹ Pestalozzi der pädagogischen und kulturphilosophischen Schriften entgegenzuhalten, entziffert Rang die politischen Implikationen noch der späten, scheinbar autonom pädagogischen Arbeiten. Andererseits zeigen sich bereits in frühen Äußerungen Pestalozzis Motive seiner späteren politischen Abstinenz.
Soziologisch hat das Buch sein Gewicht als Beitrag zur konkreten Vermittlung geistiger Positionen durch deren gesellschaftliche Ursprünge und Gehalte. In den Rissen von Pestalozzis Entwicklung erkennt Rang den Ausdruck der objektiven Antagonismen, welche die damals politisch sich konstituierende bürgerliche Gesellschaft schon in ihrer Frühzeit durchfurchten. An einem würdigen Gegenstand wird jene Arbeitsteilung zwischen den Disziplinen überschritten, die auf Kosten der Fruchtbarkeit einer jeglichen geht. Das bedeutet zugleich, inhaltlich, eine energische Veränderung der Vorstellungen von Pestalozzi, dessen ungebärdige Kraft man so behend für autoritäre Ideologien zu verwenden wußte.
Juni 1966
Regina Schmidt, Egon Becker, Reaktionen auf politische Vorgänge. Drei Meinungsstudien aus der Bundesrepublik. Frankfurt a.M. 1967. (Frankfurter Beiträge zur Soziologie. 19.)
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Während der letzten Jahre hat das Institut für Sozialforschung nach einigen hervorstechenden Ereignissen des öffentlichen Lebens sogleich Umfragen unter der Bevölkerung veranstaltet, um sich deren momentaner Reaktionen zu vergewissern. Der Eichmann-Prozeß, die Spiegel-Affäre und der Metallarbeiterstreik in Baden-Württemberg wurden zum Anlaß rasch vorbereiteter, im Umfang bescheidener Studien, im Researchjargon ›Quickies‹ genannt. Die drei Erhebungen leitete Egon Becker. Er half Regina Schmidt, als sie die zugleich undankbare und lockende Aufgabe übernahm, die Befunde, soweit es angeht, zu integrieren und aus ihnen herauszulesen, was dabei als empirischer Beitrag zur politischen Soziologie betrachtet werden mag.
Die Einwände gegen Quickies liegen auf der Hand; die Publikation ist ihrer sich bewußt. Um an die Daten zu gelangen, ehe sie sich mit den Reaktionen auf andere Ereignisse vermengen, wird die Vorbereitung improvisiert. An strenge, wiederholte Pre-tests ist nicht zu denken; der Anspruch an die Zuverlässigkeit des Forschungsinstruments muß sich bescheiden. Schwerer noch als die technische Insuffizienz wiegt eine im höheren Sinn wissenschaftliche. Da solche Studien auf aktuelle Ereignisse und Situationen sich zuspitzen, ist es schwierig, die Befunde auf strukturelle Zusammenhänge des Gesellschaftsprozesses zu beziehen; die zeitliche Beharrlichkeit der ermittelten Daten erscheint fraglich. Etwas vom Ephemeren des Anlasses teilt den Erhebungen selbst sich mit.
Dem jedoch stehen nicht zu verachtende Vorteile gegenüber. Zu den Regeln eines bedacht entworfenen Fragebogen- oder Interview-Schemas gehört es, soweit wie möglich vage, allgemeine Fragen zu vermeiden und das sie leitende Interesse zu konkretisieren. Diese Regel kommt freiwillig dem recht nahe, wozu das Quickie aus Not gezwungen
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