Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band
Generaloberst Tuur«, sie holte ein Tüchlein hervor, »ist denn auch mit einem sarkastischen Lächeln auf den Lippen verschieden.« Sie führte das Tüchlein an die Augen. »Er sagte: ›Freunde, ich hoffe, noch den Tag zu erleben, an dem alles zusammenbricht.‹ Er war verzweifelt und sah keinen Sinn mehr in seiner Existenz. Die Leere im Herzen ertrug er nicht …« Plötzlich sprang sie auf. »Sie werden sehen, Iwan …«
Sie lief ins Nebenzimmer und brachte ein altmodisches schweres Fotoalbum. Ich schaute auf die Uhr, doch Waina schenkte dem keine Beachtung. Sie setzte sich neben mich und schlug das Album auf der ersten Seite auf.
»Das ist der Generaloberst.«
Der Generaloberst war ein Adler: Er war groß, hatte ein schmales, knochiges Gesicht und klare Augen. Seine Uniform war mit Orden übersät. Der größte, ein vielzackiger lorbeerumkränzter Stern, funkelte in der Blinddarmgegend. In der Linken hielt er seine Handschuhe, die Rechte ruhte auf dem Griff des Dolches. Ein hoher Kragen mit Goldstickerei stützte den Unterkiefer.
»Und das ist der Generaloberst im Manöver.«
Auch hier war der Generaloberst ein Adler: Er stand vor seinen Offizieren, die, über die Vorderfront eines gigantischen Panzers gebeugt, eine entfaltete Karte studierten, und gab ihnen Anweisungen. An der Form der Kettenglieder und den abgeleckten Umrissen des Turms erkannte ich den schweren Sturmpanzer »Mammut«, der dazu bestimmt gewesen war, die Zone von Atomschlägen zu überwinden. Heute wurde er erfolgreich von Tiefseetauchern benutzt.
»Und das ist der Generaloberst an seinem fünfzigsten Geburtstag.«
Auch hier war der Generaloberst ein Adler: Er stand mit erhobenem Pokal an der Festtafel und lauschte einem Trinkspruch, der ihm zu Ehren ausgebracht wurde. Die linke untere Ecke des Fotos nahm eine im Lampenlicht glänzende Glatze ein; neben dem General saß eine sehr junge und sehr hübsche Waina und schaute schwärmerisch zu ihm auf. Verstohlen versuchte ich zu ertasten, wie dick das Album war.
»Und das ist der Generaloberst im Urlaub.«
Selbst im Urlaub blieb der Generaloberst ein Adler: Die Beine weit gespreizt, stand er in gestreifter Badehose am Strand und betrachtete durch einen Feldstecher den dunstigen Horizont. Zu seinen Füßen spielte ein nacktes Kind von drei oder vier Jahren. Der General war sehnig und muskulös, die Toasts und die Sahne hatten seiner Figur nicht geschadet. Ich zog meine Uhr geräuschvoll auf.
»Und das ist …«, begann Waina und schlug die Seite um. Doch da trat, ohne anzuklopfen, ein mittelgroßer runder Mann ein, der mir, vor allem seiner Kleidung wegen, sehr bekannt vorkam.
»Guten Morgen«, sagte er, das glatte, lächelnde Gesicht seitwärts geneigt.
Es war der Zöllner, immer noch in seiner weißen Uniform mit den silbernen Knöpfen und den silbernen Schnüren an den Schultern.
»Ach, Peti!«, rief Waina. »Du kommst schon? Darf ich vorstellen? Das ist Iwan … Iwan, das ist Peti, ein Freund unseres Hauses.«
Der Zöllner, der mich nicht erkannte, verbeugte sich kurz vor mir und schlug die Absätze zusammen.
Waina legte mir das Album auf die Knie und erhob sich. »Setz dich, Peti«, sagte sie. »Ich hole dir Sahne.«
Peti schlug abermals die Absätze zusammen und setzte sich neben mich.
»Interessieren Sie sich dafür?«, erkundigte ich mich sogleich und verlagerte das Album von meinen Knien auf die seinen. »Das ist Generaloberst Tuur. Hier ganz normal.« (In den Augen des Zöllners erschien ein merkwürdiger Ausdruck.) »Und hier ist der Generaloberst im Manöver. Sehen Sie? Und hier …«
»Danke«, sagte der Zöllner abrupt. »Sie brauchen sich nicht zu bemühen, weil …«
Waina kehrte mit Toasts und Sahne zurück. Schon an der Schwelle sagte sie: »Welch schöner Anblick, ein Mann in Uniform. Nicht wahr, Iwan?« Sie stellte das Tablett auf das Tischchen. »Peti, du bist heute schon früh da. Ist etwas passiert? Herrliches Wetter, die Sonne …«
Waina servierte Peti die Sahne in einer besonderen Tasse, auf der das Monogramm »T« prangte, umgeben von vier Sternchen.
»Nachts hat es geregnet, ich bin aufgewacht, folglich waren Wolken da«, fuhr Waina fort. »Doch jetzt, schauen Sie, strahlend blauer Himmel … Noch ein Tässchen, Iwan?«
Ich stand auf. »Vielen Dank, ich habe genug. Erlauben Sie, dass ich mich empfehle. Ich habe eine geschäftliche Verabredung.«
Als ich vorsichtig die Tür hinter mir geschlossen hatte, hörte ich die Witwe sagen: »Findest du nicht,
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