Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band
dass er Stabsmajor Paul erstaunlich ähnelt?«
Im Schlafzimmer packte ich den Koffer aus, verstaute die Sachen im Wandschrank und wählte erneut Riemaiers Nummer. Wieder meldete sich niemand. Ich setzte mich an den Tisch im Arbeitszimmer und untersuchte die Schubfächer. In einem entdeckte ich eine Reiseschreibmaschine, in einem anderen Briefpapier und eine leere Flasche, die Abschmiermittel für arhythmische Motoren enthalten hatte. Die übrigen Fächer waren leer, wenn man die vielen zerknüllten Quittungen, kaputten Füller und mit Fratzen bemalten, schief gefalteten Blätter nicht mitrechnete. Ich entfaltete ein Blatt. Offenbar war es ein Telegrammentwurf. »Grin bei Fischern gestorben Leichnam Ankunft Sonntag Beileid Huger Martha Jungen«. Ich las den Text zweimal, drehte das Blatt um, studierte die Fratzen und las ihn zum dritten Mal. Anscheinend kam es Huger und Martha gar nicht in den Sinn, dass normale Menschen, die einen Todesfall bekanntgeben, in erster Linie mitteilen, woran oder wie der Betreffende gestorben ist, nicht aber, bei wem. Ich hätte telegrafiert: »Grin bei Fischfang ertrunken«. Wahrscheinlich in angeheitertem Zustand. Übrigens, wie lautete meine Adresse?
Ich ging in die Diele. Vor der Tür zu den Räumen der Wirtin hockte ein magerer Junge in kurzer Hose. Unter den Arm hatte er sich ein langes silbriges Rohr geklemmt, schnaufend und keuchend wickelte er hastig einen Bindfaden von einem Knäuel ab.
Ich trat zu ihm und sagte: »Hallo!«
Mein Reaktionsvermögen ist nicht mehr, was es einmal war, dennoch wich ich rechtzeitig aus. Ein schwarzer Strahl schoss dicht an meinem Ohr vorbei und klatschte gegen die Wand. Verdutzt sah ich den Jungen an, und er hielt meinem Blick stand. Er hatte sich auf die Seite gelegt und das Rohr vor sich gestellt. Sein Gesicht war nass, der Mund offen und verzerrt. Ich schaute auf die Wand. Ein Rinnsal sickerte daran herunter. Wieder blickte ich den Jungen an. Langsam stand er auf. Das Rohr ließ er nicht los.
»Du scheinst nervös zu sein, Kleiner«, sagte ich.
»Bleiben Sie stehen, wo Sie sind«, sagte der Junge heiser. »Ich habe Ihren Namen noch nicht genannt.«
»Woher auch«, sagte ich. »Hast ja auch deinen nicht genannt, beschießt mich aber wie eine Vogelscheuche.«
»Bleiben Sie stehen, wo Sie sind«, wiederholte der Junge. »Und bewegen Sie sich nicht.« Er wich zurück und murmelte plötzlich zungenbrecherisch schnell: »Hebe dich fort von meinem Haar, hebe dich fort von meinen Knochen, hebe dich fort von meinem Fleisch …«
»Kann ich nicht«, sagte ich, während ich versuchte zu verstehen, ob er spielte oder tatsächlich Angst vor mir hatte.
»Warum nicht?«, fragte der Junge verwirrt. »Ich sage doch alles, wie es gesagt werden muss!«
»Ich kann mich nicht entfernen, ohne mich zu bewegen«, erklärte ich. »Stehend, wo ich stehe.«
Sein Mund öffnete sich wieder. »Huger«, sagte er unsicher. »Ich rate dir, Huger: Verschwinde!«
»Warum Huger?«, erkundigte ich mich verwundert. »Du verwechselst mich mit jemandem. Ich bin nicht Huger, sondern Iwan.«
Da schloss der Junge die Augen, senkte den Kopf und ging auf mich los, das Rohr vorgestreckt.
»Ich ergebe mich«, erklärte ich. »Vorsicht, nicht schießen!«
Kaum hatte sich das Rohr mir in den Bauch gebohrt, ließ er es fallen. Die Arme sanken ihm herab, und er wurde ganz schlaff. Ich bückte mich und schaute ihm ins Gesicht. Es war rot. Ich hob das Rohr auf. Es war eine Art Spielzeug-Maschinenpistole – mit einem bequemen, geriffelten Griff und einem flachen, rechteckigen Ballon, der unten wie ein Magazin befestigt war.
»Was ist das für ein Ding?«, fragte ich.
»Eine Musspritze«, sagte er finster. »Geben Sie sie her.«
Ich gab ihm das Spielzeug. »Eine Musspritze«, sagte ich. »Mit der spritzt man also. Und wenn du mich getroffen hättest?« Ich schaute auf die Wand. »War das denn nötig? Das geht nie mehr ab. Da muss die Wand ausgewechselt werden.«
Der Junge musterte mich misstrauisch. »Das ist doch bloß Mus«, sagte er.
»So? Und ich dachte – Limonade.«
Sein Gesicht hatte wieder die normale Farbe und zeigte eine gewisse Ähnlichkeit mit den tapferen Zügen des Generalobersten Tuur.
»Nein, nein«, sagte er. »Mus.«
»Und?«
»Das trocknet.«
»Und dann ist alles futsch?«
»Aber nein. Es bleibt nichts zurück.«
»Hm«, sagte ich zweifelnd. »Du musst es ja wissen. Hoffen wir das Beste. Trotzdem bin ich heilfroh, dass an der Wand nichts zurückbleibt
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