Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band
dauerte ungefähr zehn Minuten. Der Junge beachtete mich inzwischen überhaupt nicht mehr, und ich saß und überlegte, welche Fragen ich Riemaier stellen musste. Dann trat Stille ein. Die Straße leerte sich, der Benzingeruch verflog, der Himmel klärte sich.
»Wo sind sie denn auf einmal alle hin?«, wunderte ich mich.
Der Junge raschelte im Gebüsch. »Wissen Sie das nicht?«
»Woher denn?«
»Weiß ich auch nicht. Aber Huger kennen Sie irgendwoher …«
»Huger …«, sagte ich. »Huger kenne ich rein zufällig. Aber über euch weiß ich nichts. Wie ihr so lebt, womit ihr euch beschäftigt … Was machst du denn gerade zum Beispiel?«
»Die Sicherung ist kaputt.«
»Gib mal her, ich repariere das. Warum hast du eigentlich Angst vor mir? Sehe ich etwa aus wie ein Lump?«
»Sie sind alle zur Arbeit gefahren«, sagte der Junge.
»Spät fängt bei euch die Arbeit an. Es ist Zeit, zu Mittag zu essen, und ihr geht erst zur Arbeit. Weißt du, wo das Hotel ›Olympic‹ ist?«
»Selbstverständlich.«
»Bringst du mich hin?«
Der Junge zögerte. »Nein«, sagte er.
»Warum nicht?«
»Gleich ist die Schule aus. Ich muss dann heim.«
»Ach, so ist das!«, sagte ich. »Du schwänzt, wie wir das nannten. Und in welcher Klasse bist du?«
»In der dritten.«
»Ich war auch mal in der dritten.«
Er schaute aus dem Gesträuch heraus. »Und dann?«
»Dann war ich in der vierten.« Ich stand auf. »Also gut. Reden willst du nicht mit mir, begleiten willst du mich auch nicht, deine Hosen sind nass, und ich gehe jetzt in meine Wohnung. Na, was guckst du? Willst mir ja nicht mal sagen, wie du heißt …«
Schweigend schaute er mich an und atmete durch den Mund. Ich ging ins Haus. Die cremefarbene Diele war, so schien mir, unwiderruflich verschandelt. Der große kohlschwarze Fleck an der Wand dachte gar nicht daran zu trocknen. Da wird einer heute noch eine Abreibung kriegen, dachte ich. Das Bindfadenknäuel geriet mir zwischen die Füße. Ich hob es auf. Das Strippenende war am Drücker der Tür zu den Räumen meiner Wirtin befestigt. Aha, dachte ich, auf so was verstehen wir uns auch! Ich band die Strippe ab und steckte mir das Knäuel in die Tasche.
Im Arbeitszimmer nahm ich mir ein sauberes Blatt Papier aus dem Schreibtisch und setzte ein Telegramm an Maria auf. »Gut angekommen Zweite Vorortstraße achtundsiebzig Kuss Iwan«. Im Reiseführer fand ich die Telefonnummer des Servicebüros, gab das Telegramm durch und wählte erneut Riemaiers Nummer. Wieder meldete er sich nicht. Da zog ich die Jacke an, besah mich im Spiegel, zählte mein Geld und wollte eben gehen, als ich bemerkte, dass die Tür zum Salon einen Spalt offen stand und dadurch ein Auge spähte. Selbstverständlich hatte ich nichts bemerkt. Kritisch musterte ich meinen Anzug von vorn, begab mich ins Badezimmer und machte ihn, vor mich hinpfeifend, mit dem Staubsauger sauber. Als ich ins Arbeitszimmer zurückkehrte, verschwand der Kopf mit den abstehenden Ohren augenblicklich – nur das silberne Rohr des Spritzgewehrs ragte weiter durch die halboffene Tür. Ich setzte mich in den Sessel, öffnete und schloss der Reihe nach alle zwölf Schubfächer des Schreibtisches, einschließlich der Geheimfächer, und schaute erst danach wieder zur Tür. Der Junge stand auf der Schwelle.
»Ich heiße Len«, teilte er mir mit.
»Willkommen, Len«, sagte ich zerstreut. »Ich heiße Iwan. Komm rein. Ich hatte allerdings gerade vor, zu Mittag essen zu gehen. Hast du schon gegessen?«
»Nein.«
»Das trifft sich gut. Lauf zu deiner Mutter, bitte sie um Erlaubnis und komm mit.«
Len schwieg, den Blick gesenkt. »Es ist noch zu früh«, sagte er.
»Was ist zu früh? Mittag zu essen?«
»Nein, reinzugehen … zu ihr. Die Schule ist erst in zwanzig Minuten aus.« Wieder schwieg er. »Und dann ist da noch dieser Dickwanst mit den Silberschnüren.«
»Ein Lump?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete Len. »Gehen Sie wirklich gleich?«
»Ja«, erwiderte ich und zog das Bindfadenknäuel aus der Tasche. »Da, nimm. Und wenn deine Mutter als Erste herausgekommen wäre?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie wirklich gehen«, sagte er, »darf ich dann ein Weilchen hier sitzen?«
»Selbstverständlich.«
»Ist sonst keiner da?«
»Nein.«
Dennoch kam er nicht zu mir, um sich das Knäuel zu holen. Er ließ aber zu, dass ich zu ihm trat und sogar dass ich ihn am Ohr tätschelte. Das Ohr war tatsächlich kalt. Ich zog ihn behutsam daran, schob ihn zum Tisch und
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