Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band
und auch nicht in meinem Gesicht. Wie heißt du?«
»Siegfried«, antwortete der Junge.
»Und richtig?«
Er sah mich an. »Luzifer.«
»Wie?«
»Luzifer.«
»Luzifer«, sagte ich. »Belial. Astaroth. Beelzebub und Asriel. Was Kürzeres hast du nicht zu bieten? Es ist unbequem, jemanden zu Hilfe zu rufen, der Luzifer heißt.«
»Die Türen sind doch zu«, erwiderte er und trat einen Schritt zurück. Er war wieder blass.
»Und?«
Wortlos zog er sich weiter zurück, an die Wand gepresst, seitwärts, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ich begriff endlich, dass er mich entweder für einen Dieb oder einen Mörder hielt und ausreißen wollte, aber seltsamerweise rief er nicht um Hilfe und lief auch nicht zu seiner Mutter, sondern stahl sich an ihrer Tür vorbei zum Ausgang ins Freie.
»Siegfried«, sagte ich. »Siegfried-Luzifer, du bist ein entsetzlicher Feigling. Für wen hältst du mich?« Ich rührte mich nicht von der Stelle, sondern drehte mich bloß nach ihm um. »Ich bin euer neuer Mieter, deine Mutter hat mir Sahne zu trinken und Toasts zu essen gegeben, du aber hättest mich beinahe bespritzt und jetzt hast du Angst vor mir. Dabei müsste ich doch Angst vor dir haben.«
All das erinnerte mich an eine Szene im Anjudiner Internat, als man einen Jungen zu mir brachte, der fast wie dieser war, der Sohn eines Stutzers. Verdammt, glich ich denn einem Gangster?
»Du gleichst der Moschusratte Tschutschandra«, sagte ich, »die ihr Leben lang weinte, weil ihr der Mut fehlte, in die Zimmermitte zu laufen. Vor Angst hast du eine blaue Nase, deine Ohren sind kalt und deine Hosen nass, und du lässt ein Bächlein hinter dir …«
In solchen Fällen ist es absolut gleichgültig, was man sagt. Man muss nur ruhig sprechen und darf keine abrupten Bewegungen machen. Seine Miene änderte sich nicht, doch als ich das von dem Bächlein sagte, schielte er kurz nach unten. Ganz kurz. Dann war er mit einem Satz an der Haustür, zerrte am Riegel und rannte auf den Hof, dass die schmutzigen Sohlen seiner Sandalen nur so flogen. Ich folgte ihm.
Er stand in den Fliederbüschen, und ich sah lediglich sein blasses Gesicht. Wie eine fliehende Katze war er stehen geblieben, um über die Schulter zurück zu blicken.
»Na schön«, sagte ich. »Erkläre mir bitte, was ich tun muss. Ich möchte meinen Leuten schreiben und ihnen meine neue Adresse mitteilen. Die Adresse dieses Hauses, in dem ich jetzt wohne.« Er schaute mich schweigend an. »Es ist mir peinlich, zu deiner Mutter zu gehen. Erstens hat sie Besuch, und zweitens …«
»Zweite Vorortstraße achtundsiebzig«, sagte er.
Ich setzte mich gemächlich auf die Treppe. Zwischen uns lagen ungefähr zehn Meter.
»Hast du aber eine Stimme!«, sagte ich vertraulich. »Wie ein Bekannter von mir, ein Barmann.«
»Wann sind Sie angekommen?«, fragte er.
»Tja …« Ich sah auf die Uhr. »Vor anderthalb Stunden etwa.«
»Hier hat vor Ihnen einer gewohnt«, sagte er und wandte den Blick ab. »Ein Lump. Schenkte mir gestreifte Badehosen, und als ich damit baden ging, lösten sie sich im Wasser auf.«
»Ach du Schreck!«, rief ich. »Das ist kein Mensch, sondern ein Ungeheuer! Der hätte in Mus ertränkt werden müssen!«
»Das hatte ich vor«, gestand der Junge. »Aber da war er schon abgereist.«
»Besagter Huger?«, fragte ich. »Mit Martha und den Jungen?«
»Nein. Wie kommen Sie darauf? Huger hat erst nach ihm hier gewohnt.«
»Auch ein Lump?«
Er antwortete nicht. Ich lehnte mich an die Wand und schaute auf die Straße. Aus dem Tor gegenüber schob sich ruckweise ein Auto; um zu wenden, fuhr es hin und her und brauste dann mit aufheulendem Motor davon. Ihm nach jagte ein zweites, das genauso aussah. Aromatischer Benzingeruch stieg mir in die Nase. Dann flitzten Pkws in dichter Folge vorbei, es begann mir schon vor den Augen zu flimmern. Am Himmel tauchten Hubschrauber auf, sogenannte lautlose Hubschrauber. Sie flogen ziemlich tief, sodass man sich schlecht unterhalten konnte. Doch der Junge hatte offenbar gar nicht die Absicht, etwas zu sagen. Ebenso wenig schien er herauskommen zu wollen. Er hantierte im Gebüsch mit seiner Musspritze und warf mir hin und wieder einen Blick zu. Hoffentlich spritzt er nicht auf mich, dachte ich. Die Hubschrauber flogen und flogen, die Autos fuhren und fuhren; es war, als strömten alle fünfzehntausend Pkws in die Zweite Vorortstraße und als schwebten alle fünfhundert Hubschrauber über dem Haus mit der Nummer achtundsiebzig. Das
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