Gesammelte Werke 5: Vier Romane in einem Band
Jedenfalls machten sie wieder einen Materialisten aus mir … Ich rief den Empfangschef und fragte ihn, wo das Restaurant sei.
»Genau vor Ihnen«, antwortete er und blickte lächelnd auf die streitenden Greise. »Jede Küche der Welt.«
Den Eingang zum Restaurant hatte ich für das Tor zu einem botanischen Garten gehalten. Ich ging in den Garten hinein, schob mit den Händen die Zweige der exotischen Bäume auseinander und trat bald auf weichen Rasen, bald auf unebene Muschelkalkplatten. In dem üppigen, kühlen Grün zwitscherten unsichtbare Vögel. Gedämpfte Stimmen waren zu hören, das Klirren von Besteck, Lachen. Ein goldfarbener kleiner Vogel flog dicht an mir vorbei; nur mit Mühe hielt er das Kaviarschnittchen, das er im Schnabel trug, fest.
»Zu Ihren Diensten«, sagte eine tiefe, weiche Stimme. Aus dem Dickicht war ein großer, stattlicher Mann mit Hängebacken getreten. »Mittagessen«, sagte ich kurz. Oberkellner mag ich nicht.
»Mittagessen …«, wiederholte er bedeutsam. »Mittagessen in Gesellschaft? Oder ein Einzeltisch?«
»Ein Einzeltisch. Wenngleich …«
Schon hatte er ein Notizbuch in der Hand. »Mrs. und Miss Hamilton-Ray wünschen sich einen Herrn Ihres Alters an ihrem Tisch …«
»Weiter«, bat ich.
»Vater Geoffroi …«
»Ich würde einen Einheimischen vorziehen«, sagte ich.
Er wandte das Blatt um. »Eben hat Doktor der Philosophie Opir Platz genommen.«
»Bitte«, sagte ich.
Er steckte das Notizbuch ein und führte mich den mit Sandsteinplatten belegten Gang entlang. Ringsum wurde gesprochen und gegessen, zischten Siphons, im Laubwerk huschten Kolibris wie farbenprächtige Bienen umher. Der Oberkellner erkundigte sich höflich: »Wie darf ich Sie vorstellen?«
»Iwan. Tourist und Literat.«
Doktor Opir war etwa fünfzig Jahre alt. Er gefiel mir auf Anhieb, weil er sogleich den Oberkellner losscheuchte, um uns einen Kellner zu schicken. Er war dick, hatte ein rotes Gesicht und redete und bewegte sich unaufhörlich und mit großem Vergnügen.
»Sparen Sie sich die Mühe«, sagte er, als ich nach der Speisekarte griff. »Kennen wir alles. Wodka, Anchovis mit Ei – bei uns nennt man das Pazifik-Schnittchen –, Kartoffelsuppe ›Like‹ …«
»Mit saurer Sahne«, ergänzte ich.
»Selbstverständlich! Gedünsteter Stör nach Astrachaner Art, ein Scheibchen Kalbfleisch …«
»Ich möchte Fasan. In Federn gebacken.«
»Nicht doch. Jetzt ist nicht die Saison dafür. Ein Scheibchen Rindfleisch, Aal in süßer Marinade …«
»Kaffee«, sagte ich.
»Kognak«, versetzte er.
»Kaffee mit Kognak.«
»Gut. Kognak und Kaffee mit Kognak. Ein blasser Wein zum Fisch und eine gute natürliche Zigarre …«
Es erwies sich als sehr angenehm, mit dem Doktor der Philosophie Opir zu speisen. Man konnte essen, trinken und zuhören. Man brauchte aber auch nicht zuzuhören. Doktor Opir bedurfte keines Gesprächspartners. Er bedurfte eines Zuhörers. Ich war unbeteiligt, gab keine Replik von mir, während Doktor Opir genüsslich Reden schwang, fast ohne zu stocken. Dabei fuchtelte er mit der Gabel, doch die Teller und Schalen wurden dennoch mit geradezu mysteriöser Geschwindigkeit leer. Nie war mir jemand begegnet, der kauend und mit vollgestopftem Mund so kunstfertig gesprochen hätte!
»Die Wissenschaft! Ihre Majestät die Wissenschaft!«, rief er. »Sie ist lange und unter Qualen gereift, aber ihre Früchte sind üppig und süß.Verweile, Augenblick, du bist so schön! Hunderte von Generationen wurden geboren, litten und starben, und nie wollte jemand diese Beschwörungsformel aussprechen. Wir haben außerordentliches Glück. Wir sind in der größten aller Epochen geboren – in der Epoche der Erfüllung unserer Wünsche. Kann sein, dass noch nicht jeder das versteht, aber neunundneunzig Prozent meiner Mitbürger leben schon jetzt in einer Welt, in der dem Menschen praktisch alles erreichbar ist. O Wissenschaft! Endlich hast du die Menschheit befreit! Du hast gegeben, gibst und wirst uns von nun an alles geben … Speise – vorzügliche Speise! –, Kleidung – vorzügliche Kleidung, für jeden Geschmack und in jeder Menge! –, Wohnung – vorzügliche Wohnung! Liebe, Freude, Zufriedenheit, und für diejenigen, die des Glückes müde sind – süße Tränen, kleine rettende Kümmernisse, wohltuende tröstliche Sorgen, die uns in den eigenen Augen Bedeutung verleihen. Ja, wir Philosophen haben die Wissenschaft viel und boshaft gescholten. Wir riefen die Ludditen auf, die
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