Gesammelte Werke 6
verblüffte: Der alte Mann wurde mit den Jahren nicht hinfälliger, sondern, wie es schien, sogar kräftiger und frischer. Gegen Ende des Jahrhunderts weihte Janus senior Janus junior in die letzten Geheimnisse der analytischen, relativistischen und verallgemeinerten Magie ein. Sie lebten und arbeiteten Seite an Seite, nahmen an allen Kriegen und Revolutionen teil und ertrugen mehr oder weniger tapfer die Wechselfälle der Geschichte, bis sie schließlich im Forschungsinstitut für Hexerei und Zauberkünste landeten.
Um ehrlich zu sein, war die gesamte Einleitung Fiktion, denn die einzige zuverlässige Tatsache aus Janus’ Vergangenheit war seine Geburt am 7. März 1841. Wann und auf welche Weise er Direktor unseres Instituts geworden war, wussten wir nicht. Wir wussten nicht einmal, wer als Erster den Gedanken gehabt und ausgesprochen hatte, dass es sich bei W-Janus und V-Janus um einen Mann mit zwei Gesichtern handelte. Ich hatte es von Roman gehört und ihm aufs Wort geglaubt, denn verstehen konnte ich es ohnehin nicht. Roman hatte es von Gian Giacomo gehört und ihm aus jugendlicher Begeisterung ebenfalls geglaubt. Vitka war von der Putzfrau eingeweiht worden und hatte den Umstand als so trivial eingestuft, dass er fortan keinen Gedanken daran verschwendete. Und Edik hatte mitangehört, wie sich Sabaoth Baalowitsch Odin und Fjodor Simeonowitsch Kiwrin darüber unterhielten. Edik war damals noch Unterpräparator gewesen und hatte an alles geglaubt, außer an den lieben Gott.
Von Janus’ Vergangenheit hatten wir also nur eine sehr vage Vorstellung. Dafür kannten wir seine Zukunft in allen Einzelheiten. V-Janus, der sich zur Zeit mehr mit dem Institut als mit der Wissenschaft befasste, würde sich in naher Zukunft für die Idee der praktischen Kontramotion begeistern. Ihr würde er sein Leben widmen. Er würde sich einen Freund zulegen: einen kleinen grünen Papagei namens Photon, den er von berühmten russischen Raumfliegern geschenkt bekäme. Das würde am 19. Mai 1973 oder 2073 geschehen – eben so deutete der scharfsinnige Edik die ominöse Nummer 190573 auf dem Ring. Wahrscheinlich würde V-Janus bald darauf der große Wurf gelingen, und er würde sich und den Papagei Photon (der während des Experiments auf seiner Schulter sitzen und um Zucker betteln würde) in Kontramots verwandeln. Und genau von diesem Zeitpunkt an würde, wenn wir auch nur ein bisschen von der Kontramotion verstanden, die menschliche Zukunft ohne Janus Poluektowitsch Newstrujew auskommen müssen, wofür die menschliche Vergangenheit ihn doppelt zurückgewänne, denn V-Janus würde sich in W-Janus verwandeln und auf der Zeitachse rückwärtsgleiten. Sie würden sich jeden Tag sehen, aber V-Janus würde nie einen Verdacht schöpfen, war er doch von klein auf an das freundliche, runzlige Gesicht seines entfernten Verwandten und Lehrers W-Janus gewöhnt. Und genau um Mitternacht, Punkt null Uhr Ortszeit, würde für V-Janus, wie für uns alle, die Nacht in den nächsten Morgen übergehen, während für W-Janus und seinen Papagei zum selben Zeitpunkt, der die Dauer eines Mikroquants hatte, unser jeweils gestriger Morgen anbräche.
So kam es zu der Ähnlichkeit zwischen den am 10., 11. und 12. von uns beobachteten Papageien: Es war immer ein und derselbe Papagei gewesen. Armer alter Photon! Vielleicht litt er an Altersschwäche, oder er hatte Zug bekommen, jedenfalls erkrankte er und flog zum Sterben auf seinen Lieblingsplatz – die Waage in Romans Labor. Dort verschied er, und sein trauernder Besitzer richtete ihm eine Feuerbestattung aus und streute seine Asche in den Wind. Das tat er, weil er nicht wusste, wie sich tote Kontramots verhalten. Vielleicht auch, weil er es wusste. Und wir erlebten das alles wie einen Film mit vertauschten Sequenzen: Am 9. fand Roman im Ofen eine erhalten gebliebene Feder Photons. Photons Leiche war schon nicht mehr da, sie war am Tag zuvor (dem 10.) verbrannt worden. Am 10. entdeckte Roman den toten Papagei in einer Petrischale, wo ihn auch W-Janus an diesem Tag vorfand und im Ofen verbrannte. Eine erhalten gebliebene Feder lag bis Mitternacht im Ofen, worauf für sie der 9. anbrach. Am Morgen des 11. war Photon zwar noch lebendig, aber schon krank. Vor unseren Augen ging er auf der Waage (auf der er bald so gern sitzen würde) ein, und der ahnungslose Sanja Drosd legte ihn in eine Petrischale, in der er bis Mitternacht liegen blieb. Da brach für ihn der Morgen des 10. an, an dem W-Janus ihn fand,
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