Gesammelte Werke 6
etwas eingeschmolzen …«
»Und?«
»Ach ja, ich hatte sie ja in den Papierkorb geworfen. Am 8., 7. und 6. habe ich sie nicht gesehen. Hm. Wo ist sie nur abgeblieben?«
»Die Putzfrau hat sie weggeworfen«, mutmaßte ich.
»Das ist eine interessante Frage«, meinte Edik. »Nehmen wir mal an, sie ist nicht verbrannt. Wie mag sie in ein paar Jahrhunderten aussehen?«
»Es gibt interessantere Fragen«, knurrte Vitka. »Was passiert beispielsweise mit Janus’ Schuhen, die er abgetragen hat, ehe sie in der Fabrik hergestellt wurden? Und was geschieht mit dem Abendbrot, das er verzehrt hat? Und überhaupt …«
Wir waren jedoch schon ziemlich erschöpft. Nur eine Weile debattierten wir noch, dann kam Sanja Drosd, vertrieb uns vom Kanapee, schaltete sein Radio ein und ging uns um zwei Rubel an. »Nun gebt eurem Herzen mal einen Schubs«, ermunterte er uns. »Wir haben aber keine zwei Rubel«, antworteten wir. »Und wenn’s eure letzten wären, ihr würdet sie mir doch geben?«
Da wir ohnehin keinen klaren Gedanken mehr fassen konn ten, beschlossen wir, essen zu gehen.
»Eigentlich ist unsere Hypothese gar nicht so fantastisch«, meinte Edik. »Vielleicht ist W-Janus’ Schicksal in Wirklichkeit noch viel abenteuerlicher.«
Wundern würde es uns nicht, meinten wir und machten uns auf den Weg zur Kantine.
Ich schaute kurz im Elektroniksaal vorbei, um den Mädchen mitzuteilen, dass ich essen ging. Im Korridor begegnete mir W-Janus, der mir einen forschenden Blick zuwarf und mich mit einem unergründlichen Lächeln fragte, ob wir uns gestern gesehen hätten.
»Nein, Janus Poluektowitsch«, antwortete ich. »Gestern haben wir uns nicht gesehen. Sie waren gestern gar nicht hier, sondern sind gleich am frühen Morgen nach Moskau geflogen.«
»Ach ja«, sagte er. »Das hatte ich ganz vergessen.«
Er lächelte mir so freundlich zu, dass ich mir ein Herz fasste. Es war natürlich ein wenig unverschämt, aber da Janus Poluektowitsch in letzter Zeit immer nett zu mir gewesen war, konnte es jetzt zwischen uns kaum zu einem Eklat kommen.
Also sah ich mich vorsichtig nach allen Seiten um und fragte halblaut: »Janus Poluektowitsch, darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
Er zog erstaunt die Brauen hoch, musterte mich eine Weile, erinnerte sich dann offenbar an etwas und sagte: »Ja, bitte. Nur eine?«
Ich musste zugeben, dass er recht hatte. Das ließ sich gar nicht alles in einer Frage unterbringen. Wird es Krieg geben? Wird aus mir mal etwas Vernünftiges werden? Wird man ein Rezept für das Glück aller Menschen finden? Stirbt eines Tages der letzte Dummkopf aus?
Ich sagte: »Darf ich morgen früh mal bei Ihnen vorbeikommen?«
Er schüttelte den Kopf und sagte, wie mir schien, ein wenig schadenfroh: »Nein, das geht beim besten Willen nicht. Mor gen früh, Alexander Iwanowitsch, wird das Kiteshgrader Werk Sie anfordern, und ich werde Ihnen eine Dienstreise bewilligen müssen.«
Ich fühlte mich wie ein kleiner, dummer Junge. Dieser Determinismus, der mich – einen selbstständigen Menschen mit freiem Willen – zu Handlungen und Schritten bestimmte, die ganz und gar nicht von mir abhingen, war erniedrigend. Dabei ging es gar nicht darum, ob ich nach Kiteshgrad fahren wollte oder nicht. Es ging darum, dass es unvermeidlich war: Ich konnte jetzt weder sterben noch erkranken oder dagegen protestieren (»Dann kündige ich eben!«) – ich war dazu verurteilt und erfuhr so zum ersten Mal den furchtbaren Sinn dieses Wortes am eigenen Leib. Dass es schlimm ist, verurteilt zu sein – etwa zum Tode oder zur Blindheit –, hatte ich schon immer gewusst. Aber jetzt wurde mir klar, dass es genauso unangenehm sein kann, zur Liebe des schönsten Mädchens der Welt, zu einer interessanten Weltreise oder zu einer Fahrt nach Kiteshgrad (um die ich mich übrigens schon seit drei Monaten bewarb) verurteilt zu sein. Der Blick in die Zukunft erschien mir plötzlich in einem ganz neuen Licht.
»Ein gutes Buch sollte man nicht am Ende anfangen, nicht wahr?«, ergriff Janus Poluektowitsch das Wort und beobachtete mich ungeniert. »Und was Ihre Fragen angeht, Alexander Iwanowitsch, so … versuchen Sie zu begreifen, dass es nicht nur eine einzige Zukunft gibt. Es gibt verschiedene, und jeder Ihrer Schritte bringt daraus eine Variante hervor. Sie werden das begreifen«, war er überzeugt. »Sie werden es bestimmt begreifen.«
Und später begriff ich es wirklich.
Aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte.
NACHWORT UND
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