Gesammelte Werke 6
ihre Vermehrung, und auch das nur auf dem Niveau primitiver Instinkte. Säugern kommt es überhaupt nicht in den Sinn, dass die Wespe ein reiches Geistesleben führt, dass sie sich in ihrem kurzen Dasein Wissenschaften und Künste aneignen muss – und will! –, von denen die Warmblüter nicht einmal etwas ahnen. Die Wespe hat weder die Zeit noch den Wunsch, nach ihren Kindern zu sehen, zumal es gar keine Kinder sind, sondern unverständige Eier. Ja, natürlich, die Wespen haben ihre Regeln, ihre Verhaltensnormen, ihre Moral. Und da sie von Natur aus in Fragen der Arterhaltung leichtfertig sind, sieht das Gesetz eine Bestrafung vor, falls die elterlichen Pflichten vernachlässigt werden. Jede ordentliche Wespe muss bei ihrem Tun eine bestimmte Reihenfolge einhalten: Sie muss ein Nest graben, Eier ablegen, gelähmte Raupen herbeibringen und das Nest verschließen. Darauf wird geachtet, es gibt heimliche Kontrollen, die Wespe muss immer damit rechnen, dass hinter dem nächsten Stein ein Aufpasser lauert. Natürlich sieht die Wespe, dass man ihre Eier gestohlen hat oder die Nahrungsvorräte verschwunden sind. Aber sie kann kein zweites Mal Eier legen, und sie denkt gar nicht daran, ihre Zeit damit zu vergeuden, die Lebensmittelvorräte zu erneuern. Sie ist sich der Unsinnigkeit ihres Handelns durchaus bewusst, tut aber so, als hätte sie nichts gemerkt, und führt das Programm zu Ende, sonst blüht ihr nämlich ein Gang durch mindestens ein Dutzend Instanzen des Komitees für Arterhaltung … Stellen Sie sich eine Chaussee vor, Fjodor, eine wunderbar glatte Magistrale, die sich von Horizont zu Horizont erstreckt. Und mitten auf dieser Chaussee stellt ein Experimentator ein Schild mit der Aufschrift ›Umleitung‹ auf. Die Sicht ist hervorragend, der Kraftfahrer sieht genau, dass ihm auf dem gesperrten Streckenabschnitt keinerlei Gefahr droht. Er ahnt sogar, dass es ein dummer Scherz ist, hält sich aber an die Regeln und Verhaltensnormen eines ordentlichen Verkehrsteilnehmers, biegt ab, rumpelt über Bülten, kämpft sich durch Schlamm und Modder und vergeudet eine Menge Zeit und Nerven, um zweihundert Meter weiter wieder auf dieselbe Chaussee zurückzukehren. Warum? Aus genau demselben Grund: Er hält sich an die Gesetze und scheut vor einem Gang durch die Instanzen der Verkehrsmiliz zurück, zumal er genau wie die Wespe allen Grund zu der Annahme hat, dass es eine Falle ist und im Gebüsch ein Inspektor mit einem Motorrad hockt. Und nun stellen wir uns einmal vor, dass ein unbekannter Experimentator diesen Versuch anstellt, um den Intelligenzgrad dieses Menschen zu testen, und dass er ein ebenso selbstverliebter Schwachkopf ist wie der Zerstörer des Wespennests. Ha, ha, ha! Zu welchen Schlussfolgerungen muss er kommen!«
Quasselstrippe trommelte begeistert mit allen Füßchen auf den Tisch.
»Nein, Quasselstrippe«, widersprach Fjodor. »Sie vereinfachen die Dinge zu sehr. Ein Mensch, der am Lenkrad eines Fahrzeuges sitzt, kann gar nicht durch Intelligenz glänzen …«
»Genauso wenig«, fiel ihm der pfiffige Wanz ins Wort, »wie die Wespe beim Eierlegen. Dazu, wissen Sie, bedarf es keiner Intelligenz.«
»Warten Sie, Quasselstrippe«, bat Fjodor. »Sie bringen mich ständig aus dem Konzept. Ich wollte sagen … Na bitte, jetzt hab ich vergessen, was ich sagen wollte. Ach ja! Um die Größe des menschlichen Verstandes bewundern zu können, muss man das ganze Gebäude dieses Verstandes, alle Errungenschaften der Wissenschaft, der Literatur und der Künste überblicken. Sie haben sich so geringschätzig über den Kosmos ausgelassen – dabei sind Satelliten und Raketen ein begeisternder, großer Schritt nach vorne. Sie müssen doch zugeben, dass kein Gliederfüßer einer solchen Großtat fähig ist.«
Die Sprechende Wanze zuckte verächtlich mit den Fühlern. »Darauf könnte ich erwidern, dass die Gliederfüßer den Kosmos gar nicht brauchen«, sagte Quasselstrippe. »Allerdings: Die Menschen brauchen ihn auch nicht, und darum wollen wir gar nicht davon reden. Sie verstehen die einfachsten Dinge nicht, Fjodor. Jede Art hat ihren historischen, von Generation zu Generation überlieferten Traum. Die Verwirklichung dieses Traums bezeichnet man gewöhnlich als Großtat. Die Menschen hatten zwei uralte Träume: den, fliegen zu können (der entsprang dem Neid auf die Insekten), und den, zur Sonne zu fliegen (der entsprang der Unwissenheit), glaubten sie doch, einfach so nach den Sternen greifen zu können. Nun darf
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