Gesammelte Werke 6
seltsam zumute. Wie ein Windstoß durchfuhr mich hin und wieder der Gedanke, ich säße im Zimmer auf dem Kanapee, aber sobald ich den Kopf schüttelte, fand ich mich am Brunnen wieder. Mit der Zeit legte sich das. Ich wusch mich mit dem herrlich kalten Wasser, füllte etwas davon in den Kühler und rasierte mich. Die Alte ließ sich noch immer nicht blicken. Ich hatte Hunger und musste zudem in die Stadt, zur Post, wo vielleicht schon die Jungs auf mich warteten. Ich schloss den Wagen ab und verließ den Hof.
Langsam schlenderte ich die Straße an der Meeresbucht entlang, die Hände in die Taschen meiner grauen DDR-Jacke gesteckt, und blickte vor mich hin. In der hinteren Tasche meiner Lieblingsjeans mit den vielen Reißverschlüssen klimperten die Münzen, die mir die Alte gegeben hatte. Ich dachte angestrengt nach. Die dünnen Heftchen der »Gesellschaft für Wissen« hatten stets versichert, Tiere könnten nicht spre chen. Märchen hingegen vermittelten mir von Kindesbeinen an das Gegenteil. Natürlich gab ich den Heftchen recht, war ich doch noch nie im Leben auf sprechende Tiere gestoßen. Nicht einmal auf Papageien. Einmal hatte ich zwar einen Papagei gesehen, der wie ein Tiger brüllen konnte, aber die menschliche Sprache beherrschte er nicht. Und nun: der Hecht, Kater Wassili und sogar der Spiegel. Übrigens kommt es ziemlich oft vor, dass unbelebte Dinge sprechen. Einem Mann wie meinem Urgroßvater allerdings wäre ein solcher Gedanke nie gekommen. Obwohl aus seiner, des Urgroßvaters, Sicht ein sprechender Kater weit weniger fantastisch gewesen wäre als ein polierter Holzkasten, der krächzt und heult, Musik macht und in allen möglichen Sprachen spricht. Das mit dem Kater leuchtete ja noch ein. Aber wie spricht ein Hecht? Der Hecht hat keine Lunge. So viel steht fest. Allerdings muss er eine Schwimmblase haben, deren Funktion, soviel ich weiß, noch nicht einmal den Ichthyologen restlos klar ist. Shenka Skoromachow, ein mir bekannter Ichthyologe, meint sogar, die Funktion der Schwimmblase sei noch völlig unklar, und wenn ich ihm mit Argumenten aus den Broschüren der »Gesellschaft für Wissen« komme, spuckt er Gift und Galle. In solchen Fällen verschlägt es ihm regelrecht die Sprache. Ich glaube, dass wir noch sehr wenig über die Möglichkeiten der Tiere wissen. So hat man erst kürzlich herausgefunden, dass Fische und Meerestiere unter Wasser Signale tauschen. Auch von Delfinen weiß man Interessantes zu berichten. Oder nehmen wir nur den Affen Rafail. Ich habe es selbst gesehen. Sprechen kann er zwar nicht, aber man hat einen Reflex bei ihm elaboriert: grünes Licht – Banane, rotes Licht – Elektroschock. Und alles ging gut, bis man das rote und das grüne Licht gleichzeitig einschaltete. Da führte sich Rafail ungefähr so auf wie Shenka: Er war zu Tode beleidigt, stürzte zu dem Fenster, hinter dem der Experimentator saß, und spuckte knurrend und kreischend dagegen. Es gibt da auch einen Witz … Ein Affe sagt zum anderen: »Weißt du, was ein bedingter Reflex ist? Das ist, wenn ein Glöckchen läutet und all diese Quasiaffen in ihren weißen Kitteln mit Bananen und Pralinen gelaufen kommen.« So einfach ist das Ganze natürlich nicht. Auch die Terminologie ist noch unterentwickelt. Versucht man unter diesen Bedingungen ein Problem zu lösen, das mit der Psyche und den potenziellen Möglichkeiten der Tiere zu tun hat, ist man völlig hilflos. Viel besser fühlt man sich allerdings auch nicht, wenn man ein System von Integralgleichungen mit unbekannten Funktionen vorgesetzt kriegt, die unter dem Integralzeichen vorkommen. Darum ist und bleibt das Denken die Hauptsache. Wie schon Pascal sagte:»Wir müssen uns also bemühen, gut zu denken, das ist die Grundlage der Moral.«
Ich erreichte den Prospekt des Friedens und blieb, von einem ungewöhnlichen Schauspiel in Bann genommen, stehen. Mitten auf der Fahrbahn lief ein Mann mit Kinderfähnchen in den Händen. Etwa zehn Schritt dahinter kroch langsam und angestrengt dröhnend ein großer weißer Lkw der Marke »MAS« die Straße hinunter. Der Anhänger des »MAS« war ebenso groß, rußte stark und hatte die Form einer silbrig schimmernden Zisterne. Darauf stand der Schriftzug: »Leicht brennbar«, und rechts und links vom Anhänger rollten langsam zwei rote, mit Feuerlöschern bestückte Feuerwehrfahrzeuge. Von Zeit zu Zeit mischte sich in das gleichmäßige Dröhnen des Motors ein neuer Laut, bei dem einem das Herz stockte, und aus den
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