Gesammelte Werke 6
aufgeworfen wurde. Ich goss hastig den Rest Wein in mein Glas und leerte es aus, um mich zu beruhigen, wobei mir verzweifelt klarwurde, dass ich am Vortag nicht diesen verdammten Wein hätte kaufen sollen, sondern Kognak. Oder, noch besser, Wodka.
Die Sache war die: Unser Sekretariat hatte bereits im vergangenen Herbst beschlossen, der Bitte eines Instituts nachzukommen, das, wie es schien, linguistische Forschungen betrieb und von allen Moskauer Schriftstellern jeweils einige Manuskriptseiten für spezielle Untersuchungen benötigte. Es ging dabei um Informatik, sprachliche Entropie oder Ähnliches … Keiner von uns hatte das richtig verstanden, außer vielleicht Garik Aganjan, der, wie es hieß, durchblickte, die Sache aber trotzdem keinem von uns erklären konnte. Wir wussten nur, dass das Institut so viele Schriftsteller brauchte wie möglich und alles andere unwichtig war: unwichtig, wie viele Seiten man abgab, was für Seiten und mit welchem Inhalt – nur hingehen musste man, an einem beliebigen Arbeitstag zwischen neun und siebzehn Uhr.
… Damals hatte niemand Einwände gehabt, vielen schmei chelte es sogar, am wissenschaftlich-technischen Fortschritt teilzuhaben, sodass, wie man hörte, anfangs sogar Schlangen in der Bannaja standen und sich kleine Skandale zutrugen. Später jedoch verlief alles im Sande, die Sache geriet in Vergessenheit, und jetzt piesackte der arme Fjodor Michejitsch uns Säumige einmal im Monat, manchmal auch öfter, und rügte und beschimpfte uns am Telefon oder bei persönlichen Begegnungen.
Natürlich ist es nicht gut, wenn man dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt wie ein dicker Brocken im Weg liegt, doch sind wir eben Menschen: Mal bin ich in der Bannaja und erinnere mich, dass ich im Institut vorbeigehen müsste, habe aber kein Manuskript dabei; dann wieder trage ich ein Manuskript unter dem Arm und bin schon auf dem Weg, finde mich aber seltsamerweise nicht in den Bannaja wieder, sondern im Klub. Ich erkläre mir diese rätselhaften Irrwege damit, dass es unmöglich ist, dem erwähnten Unterfangen, wie auch den vielen anderen unseres Sekretariats, mit dem gebotenen Ernst zu begegnen. Nein, wirklich: Was für eine sprachliche Entropie können wir an der Moskwa schon haben? Und vor allem: Was habe ich damit zu schaffen?
Wie dem auch sei, ich würde ja doch nicht darum herumkommen, also suchte ich nach der Mappe, in der ich, wie ich mich entsann, schon in der vorvergangenen Woche einige Manuskriptseiten bereitgelegt hatte. Auf den ersten Blick war sie nirgends zu sehen, und da fiel mir ein, dass ich am fraglichen Tag zuerst mit Kap-Kapytsch in den »Fremdländischen Invaliden« gezogen war, um dort mit Nos-Nossytsch wegen eines Artikels ein Hühnchen zu rupfen. Und nach dem »Invaliden« waren wir nicht in die Bannaja, sondern alle zusammen ins »Pskow« geraten. Demzufolge hatte es jetzt wohl keinen Sinn mehr, weiter nach der Mappe zu forschen.
Aber Gott sei Dank mangelt es mir schon lange nicht mehr an Rohmanuskripten. Ich quälte mich also ächzend aus meinem Sessel, trat an den hintersten Teil der Schrankwand und setzte mich, wiederum ächzend, direkt davor auf den Fußboden. Ach, wie viele Bewegungen gelingen mir nur noch, wenn ich herzhaft ächze, sowohl körperliche als auch seelische. (Ächzend erheben wir uns vom Schlaf. Ächzend richten wir unser Lager. Ächzend senden wir aus die Gedanken. Ächzend vernehmen wir des Feuers Urkraft, doch wir zähmen die wogenden Flammen. Ächzend. Die Upanischaden, scheint’s. Vielleicht auch nicht ganz die Upanischaden. Oder überhaupt nicht.)
Ächzend öffnete ich die Klappe des Sockelschränkchens, und Mappen, Schulhefte in verschiedenfarbigen Wachstuchumschlägen und eng beschriebene, von rostigen Büroklammern zusammengehaltene vergilbte Blätter fielen auf meine Knie. Ich nahm die erstbeste Mappe zur Hand. Die Ecken waren schon ganz abgestoßen, nur ein einziges schmutziges Bändchen hing am Verschluss, und auf dem Deckel befanden sich viele, halb verwischte Kritzeleien. Entziffern ließ sich lediglich eine uralte, sechsstellige Telefonnummer mit einem Buchstaben, und dann noch die mit grüner Tinte geschriebene Hieroglyphenzeile: »Seinen jidai no saku« – »Das Frühwerk«. In diese Mappe hatte ich wohl fünfzehn Jahre nicht hineingeschaut. Alles hier war aus meiner Zeit auf Kamtschatka oder noch früher, aus Kansk und Kasan. Aus linierten Heften herausgerissene Blätter, selbstgebastelte, mit rohem Zwirn
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