Gesammelte Werke 6
am Fenster, und statt mich mit meinem Drehbuch zu befassen, trank ich Wein und dachte an verschiedene Dinge gleichzeitig. Drau ßen stöberte es, die Autos schlichen ängstlich die Chaussee hinunter, und an den Fahrbahnrändern türmten sich die Schneeverwehungen. Durch den Schneeschleier hindurch sah ich schemenhaft und düster die in Grüppchen beisammenstehenden kahlen Bäume und die borstigen Flecken des Gesträuchs auf dem Brachland.
Moskau war eingeschneit.
Eingeschneit wie ein gottverlassener Kleinbahnhof irgend wo bei Aktjubinsk. Mitten auf der Chaussee schlitterte nun schon seit einer halben Stunde ein Taxi, das unvorsichtig genug gewesen war, hier einen Wendeversuch zu wagen, und ich stellte mir vor, wie viele es wohl in dieser riesigen Stadt sein mochten, die genauso schlitterten und rutschten: Taxis, Busse, Lastwagen, ja selbst die schwarz glänzenden Limousinen mit Stahlgürtelreifen.
Meine Gedanken bewegten sich auf unterschiedlichen Ebe nen und unterbrachen einander träge. Beispielsweise kamen mir die Hauswarte in den Sinn. Vor dem Krieg hatte es keine Bulldozer gegeben, auch nicht diese monströsen, grellfarbenen Schneeräumer, Schneefräsen und Schneeschleudern – dafür aber Hauswarte mit Schürzen, Besen und quadrati schen Schneeschaufeln aus Sperrholz. Und Filzstiefeln. Schnee hatte damals, soweit ich mich entsinne, ungleich weniger auf den Wegen gelegen. Aber vielleicht waren auch die Naturgewalten noch nicht so gewesen wie heute …
Weiterhin beschäftigte mich, dass mir in letzter Zeit immerzu verdrießliche, absurde oder obskure Dinge passierten, so als wäre der, der mein Schicksal zu lenken hatte, vor Langeweile übergeschnappt und triebe mit mir seine Possen. Nur leider – was half’s? – war er ein Trottel, und demzufolge gerieten auch seine Possen dumm und konnten bei keinem, nicht einmal bei dem Spaßvogel selbst, etwas anderes bewirken als Blamage und Peinlichkeit, sodass man im Erdboden versinken mochte.
Und bei alldem war mir immer bewusst, dass rechts von mir meine beiseitegerückte Schreibmaschine stand, eine »Tipp« mit schon immer hängendem »s«, eingespannt eine halb fertige Seite, auf der zu lesen war: »… Die Panzertürme sind nach links gerichtet, und ihre Kanonen schießen auf die Stellungen der Partisanen, systematisch, der Reihe nach, um einander nicht am Zielen zu hindern. Hinter dem Turm des vorderen Panzers kauert Rudolf, SS-Leutnant und Kommandeur der Panzersoldaten. Er als das Hirn, der Dirigent dieses Todesorchesters erteilt durch Gesten den nachfolgenden MPi-Schützen der SS seine Befehle. Unentwegt prasseln Kugeln der Partisanen auf die Panzerungen, werfen um die Raupenketten herum den Schlamm auf und treiben aus den dunklen Pfützen Wassersäulen empor. … Ein getarnter Vor posten der Partisanen, ein winziger Schützengraben am Rand eines Sumpfes. Zwei Partisanen, ein junger und ein Greis, be obachten fassungslos die nahenden Panzer. Rr-rumm! Rr-rumm! Rr-rumm!, dröhnen die Kanonen.«
Ich bin jetzt sechsundfünfzig, aber ich war nie bei den Par tisanen und habe auch nie eine Panzerattacke erlebt. Dabei hätte ich, streng genommen, am Kursker Bogen fallen müssen. Unsere ganze Schule ist dort gefallen, nur Rafka Resanow blieb übrig, ohne Beine, dann Wasja Kusnezow aus dem MG-Bataillon und ich, Granatwerferschütze.
Kusnezow und mich hatte man eine Woche vor Studienende nach Kuibyschew abkommandiert. Offenbar war der, der mein Schicksal zu lenken hatte, damals noch voller En thusiasmus, was meine Person anging, und wollte sehen, wozu ich tauge. Und damals taugte ich dazu, meine Jugend in der Armee zu verbringen und es für meine Pflicht zu halten, über diese Armee zu schreiben, über Offiziere und Panzerattacken, wiewohl ich mir mit den Jahren immer öfter sagte: Gerade, weil ich rein zufällig am Leben geblieben bin, sollte ich besser nicht über das alles schreiben.
Auch daran dachte ich jetzt, während ich durchs Fenster auf das zugeschneite Dritte Rom schaute. Dann nahm ich mein Glas zur Hand und tat einen tiefen Zug. Außer dem Taxi waren noch zwei weitere Autos stecken geblieben, und man sah, wie melancholische Figuren mit Schaufeln, im Schnee sturm gebeugt, umhertappten.
Mein Blick wanderte zurück, hinüber zu den Bücherregalen in meinem Zimmer.
O Gott, dachte ich plötzlich und spürte Kälte in mir hochsteigen, das ist gewiss meine letzte Bibliothek! Eine andere werde ich nicht mehr haben. Dafür ist es zu spät. Es ist meine fünfte
Weitere Kostenlose Bücher