Gesammelte Werke 6
zusammengeheftete Kladden, einzelne Bogen von gelblichem grobem Papier – teils Packpapier, teils uralt und zerschlissen, und das alles mit der Hand beschrieben, keine einzige Zeile, kein Buchstabe mit Maschine.
»Ein mürrisch dreinblickender Schwarzer trug den Sessel mit dem menschlichen Wrack aus dem Arbeitsraum. Der Chef schloss hinter ihm fest die Tür …«
Was für ein Schwarzer? Was für ein Wrack? Ich erinnere mich an nichts.
»›Konnten Sie feststellen, ob unter den Bolschewiken auch Chinesen waren?‹, fragte der Chef plötzlich. ›Chinesen? Hm … Ich glaube, ja. Chinesen, Koreaner oder Mongolen. Jedenfalls Gelbe …‹«
Ja-ja-ja-ja-ja! Jetzt fällt es mir wieder ein! Es war ein politisches Pamphlet von mir … Nein. Ich erinnere mich doch nicht.
»Die Festung fiel, doch die Garnison siegte.«
Aha.
»›Ich seh’ ein! Ich seh’ ein!‹, heulte Kanincheneier auf, als er einen sichtbaren Gegner entdeckt hatte … Und wieder ein Schuss aus dem Dunkel über ihnen …«
Ah, das war meine Kipling-Übersetzung,»Stalky & Co.«. ’53, auf Kamtschatka. Ich saß da und übersetzte Kipling, weil es in Ermangelung eines sichtbaren Gegners für den Dolmetscher nichts zu tun gab. »Kanincheneier« hatte im Original »Rabbit’s Eggs« geheißen … Und nein, Freunde, ihr braucht keine Grimasse zu ziehen: Wenn Kipling im Sinn gehabt hätte, woran ihr gerade denkt, hätte er sicher »Rabbit’s Balls« geschrieben. Ich entsinne mich, der Text war eine Qual gewesen – aber auch eine vortreffliche Übung; es gibt keine bessere Schule für einen Übersetzer als das Werk eines talentierten Schriftstellers, das, konkret in Raum und Zeit, eine ganz unbekannte Welt beschreibt.
Ach, und da ist mein »Vorkommnis auf Wache«. Auch ’53 auf Kamtschatka.
»Später wusste Berkutow, der vor dem Eingang zum Wach haus Dienst schob, beim besten Willen nicht mehr, was ihn als Erstes hatte aufmerken und die Waffe fester greifen lassen. Angespannt hatte er den diffusen Geräuschen der warmen Julinacht gelauscht und neben dem Lärm der eigenen Schritte, dem Blätterrascheln und dem schläfrigen Knarren der Zweige etwas gehört, etwas anderes …«, na, und so weiter. Kurzum: Im Schutz der Nacht schlich man sich an den Wachposten heran, überwältigte ihn, und dieser, außerstande, die Angreifer abzuwehren, lenkte das Feuer auf sich.
Was die Literatur anging, so war ich damals ein großer Moralist. Und ich moralisierte nicht nur – nein, ich besang nachgerade begeistert das militärische Reglement. Und deshalb, Genossen Soldaten, gipfelte auch das »Vorkommnis auf Wache« wie folgt:
»Wie konnte es geschehen, dass Linko, der die Vorschriften allzu gut kannte, diese grobe Verletzung der Garnisons- und Wachdienstordnung duldete? Und du, Berkutow? Handeltest du nicht fahrlässig, indem dir entging, wohin Simakow gegangen war? Und wieso haben wir alle sein Fehlen nicht bemerkt, als die Wache an die Gewehre gerufen wurde?«
Seltsam, das heute wieder zu lesen! Es ist, als erzählte man dir gerührt, wie du dich als Dreijähriger nicht beherrschen konntest und vor allen Gästen in die Hosen gemacht hast. Dabei war ich zu jener Zeit nicht drei, sondern achtundzwanzig Jahre alt. Aber wie sehr wünschte ich mir, meinen Namen gedruckt zu sehen, mich als Schriftsteller zu fühlen und das Signum zur Schau zu stellen, dass ich ein Liebling der Musen und Apollos sei! Und wie bitter war die Enttäuschung, als mir das Blatt Suworow-Sturm , Gott mit ihm, unter dem höflichen Vorwand, das »Vorkommnis auf Wache« sei nicht typisch für unsere Armee, mein Manuskript wieder zurückschickte. Heilige Worte! Ich stand in meinem Leben wohl zweihundert Stunden Wache, doch nur einmal waren da neben dem Lärm der eigenen Schritte, dem Blätterrascheln und dem schläfrigen Knarren der Zweige fremde Geräusche, das heißt, in der Finsternis drängte sich jemand energisch und furchteinflößend gegen die Umzäunung aus Stacheldraht und reagierte nicht auf meine ver zweifelten Rufe: »Halt! Halt, wer da? Halt, oder ich schieße!« Die übergeordneten Wachoffiziere, die auf meine Schüsse hin herbeieilten, entdeckten einen Esel, der sich im Stacheldraht verheddert hatte und von mir mit einem Schuss erlegt worden war. Im ersten Zorn drohte man mir Arrest an, aber dann kam ich noch mal davon …
Nein, mein »Vorkommnis auf Wache« kriegen sie nicht zum Forschen und Präparieren! Mag es im Schrank liegen. Und wieder dachte ich, was für ein überaus
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