Gesammelte Werke 6
angestrengt und schwerfällig auf dem Kopfsteinpflaster umher. Viktor blieb zuerst stehen, trat dann aber näher. Es war nicht auszumachen, was da eigentlich vor sich ging. Nach einer Schlägerei sah das Ganze nicht aus: Keiner verpasste dem anderen Schläge. Und an eine Rauferei aus jugendlichem Übermut erinnerte es schon gar nicht – man hörte weder anfeuernde Rufe noch lautes Gelächter. Der schwarz gekleidete Mann riss sich plötzlich los und fiel auf den Rücken. Sofort stürzten sich die beiden in den Regenmänteln auf ihn. Da merkte Viktor, dass die Wagentüren offen standen, und sagte sich, dass sie den Mann entweder gerade aus dem Auto gezerrt hatten oder ihn hinein verfrachten wollten.
Er trat nun dicht heran und brüllte: »Aufhören!«
Die beiden Männer in den Regenmänteln drehten sich mit einem Ruck um und starrten Viktor an. Die Kapuzen verdeckten ihre Gesichter, und so sah Viktor nur, dass sie jung waren und ihnen vor Anstrengung der Mund offen stand. Sogleich sprangen sie blitzschnell in den Wagen und schlugen die Türen zu, der Motor heulte auf, dann verschwand der Wagen in der Dunkelheit. Der schwarz gekleidete Mann stand langsam auf; bei seinem Anblick wich Viktor einen Schritt zurück. Es war ein Kranker aus dem Leprosorium – ein »Nässling« oder eine »Brillenschlange«, wie man sie der gelben Ringe um die Augen wegen nannte. Eine schwarze Binde verdeckte seine untere Gesichtshälfte. Er keuchte angestrengt und zog vor Schmerz die Reste seiner Augenbrauen zusammen. Das Wasser rann ihm über den kahlen Schädel.
»Was ist passiert?«, fragte Viktor.
Die Brillenschlange sah mit weit aufgerissenen Augen an ihm vorbei, und als Viktor sich umdrehen wollte, spürte er einen harten Schlag auf den Hinterkopf. Als er wieder zu sich kam, lag er mit dem Gesicht unter einer Regenrinne. Das Wasser, das ihm in den Mund rann, war lauwarm und schmeckte nach Rost. Spuckend und hustend rückte er zur Seite, setzte sich auf und lehnte den Rücken an eine Ziegelwand. Das Wasser, das sich in seiner Kapuze angesammelt hatte, floss ihm hinter den Kragen und lief den Rücken hinunter. Sein Kopf dröhnte, er hörte Glocken, Trompeten und Trommelwirbel. Und durch all den Lärm hindurch sah er ein schmales, dunkles Gesicht, das ihm bekannt vorkam. Das hab ich doch schon mal irgendwo gesehen, grübelte er, und zwar vor dem Hieb ins Gesicht. Er bewegte die Zunge im Mund und klappte den Unterkiefer auf und zu. Den Zähnen war nichts passiert. Der Junge hielt die Hand unter die Regenrinne und spritzte ihm Wasser in die Augen.
»Danke, mein Lieber«, sagte Viktor. »Es reicht.«
»Ich dachte, Sie wären noch nicht ganz bei sich«, erklärte der Junge ernst.
Viktor langte vorsichtig in die Kapuze und befühlte seinen Nacken. Er spürte eine Beule – aber nichts Schlimmes, keine zertrümmerten Knochen, ja nicht einmal Blut.
»Wer war das?«, fragte er nachdenklich. »Doch hoffentlich nicht du?«
»Können Sie alleine gehen, Herr Banew?«, erkundigte sich der Junge. »Oder soll ich Hilfe holen? Für mich sind Sie nämlich zu schwer.«
Jetzt wusste Viktor wieder, wer der Junge war.
»Dich kenne ich doch«, sagte er. »Du bist Bol-Kunaz, ein Freund meiner Tochter.«
»Ja«.
»Na, das ist doch gut. Du brauchst keine Hilfe zu holen und auch keinem etwas davon zu erzählen. Lass uns lieber noch ein bisschen hier sitzen, bis wir wieder in Ordnung sind.«
Jetzt sah er, dass auch Bol-Kunaz etwas abbekommen hatte. Auf seiner Backe prangte eine frische Schramme, und seine Oberlippe war geschwollen und blutete.
»Ich werde doch lieber Hilfe holen«, schlug Bol-Kunaz vor.
»Muss das sein?«
»Sehen Sie, Herr Banew, es gefällt mir nicht, dass Ihr Gesicht so zuckt.«
»Tut es das?« Viktor befühlte sein Gesicht. Da zuckte überhaupt nichts. »Das kommt dir nur so vor. Also, jetzt stehen wir auf. Was muss man dazu tun? Man muss erst die Beine anziehen.« Er zog die Beine an und hatte das Gefühl, dass sie ihm nicht gehörten. »Dann muss man sich sacht von der Wand abstoßen und den Schwerpunkt ein wenig verlagern …« Das aber wollte und wollte ihm nicht gelingen – irgendetwas hinderte ihn daran. Was haben sie mir nur über den Schädel gehauen?, fragte er sich. Noch dazu so gekonnt …
»Sie stehen auf Ihrem Mantel«, sagte der Junge. Aber Viktor hatte seine Arme und Beine, den Regenmantel und das Orchester unter seiner Schädeldecke schon sortiert und stand auf. Anfangs musste er sich noch gegen die Wand
Weitere Kostenlose Bücher