Gesammelte Werke 6
beobachtete, wie Teddy bedächtig nach einem sauberen Glas griff, Sodawasser einfüllte, ein paar Tropfen aus dem Fläschchen dazugab und das Ganze ebenso bedächtig mit einem Glasstab umrührte. Dann schob er Viktor das Glas hinüber. Viktor trank mit angehaltenem Atem und verzog das Gesicht. Ein frischer, grässlicher, ein grässlich frischer Salmiakstrahl schoss durch sein Gehirn und löste sich irgendwo hinter den Augen auf. Viktor sog die plötzlich unerträglich kalt gewordene Luft durch die Nase ein und langte in das Teepäckchen.
»Gut, Teddy. Danke. Setz das mit auf meine Rechnung. Sie werden dir sagen, was ich zu zahlen habe. Ich gehe dann.«
Beflissen die Teeblätter kauend, kehrte er an seinen Tisch zurück. Der junge Mann mit Brille und sein hochgewachsener Begleiter verschlangen hastig ihr Abendessen. Vor ihnen stand nur eine Flasche – mit dem hiesigen Mineralwasser. Pavor und Golem hatten sich eine Tischecke frei gemacht und würfelten, während Dr. Quadriga, den zerzausten Kopf in den Händen, monoton vor sich hin murmelte: »›Die Freiheitslegion – eine Stütze des Präsidenten.‹ Ein Mosaik. Zum glücklichen Namenstag Eurer Exzellenz. ›Der Präsident – der Vater der Kinder.‹ Ein allegorisches Bild …«
»Ich gehe dann«, verabschiedete sich Viktor.
»Schade«, meinte Golem. »Viel Erfolg übrigens.«
»Grüß Roßschäper«, sagte Pavor augenzwinkernd.
»›Parlamentsmitglied Roßschäper Nant‹«, rief Quadriga lebhaft. »Ein Porträt. Nicht teuer. Ein Brustbild …«
Viktor nahm sein Feuerzeug und seine Zigaretten und ging zum Ausgang. Hinter ihm ertönte Dr. Quadrigas klare Stimme: »Meine Herren, ich glaube, es wird Zeit, dass wir uns bekannt machen. Ich bin Rem Quadriga, Doktor honoris causa, an Sie, mein Herr, aber kann ich mich nicht erinnern …« In der Tür stieß Viktor mit dem dicken Trainer der »Brüder im Geiste«, einer Fußballmannschaft, zusammen. Er war durchnässt, blickte sorgenvoll drein und ließ Viktor den Vortritt.
Als der Bus hielt, sagte der Fahrer: »Endstation.«
»Ist hier das Sanatorium?«, fragte Viktor. Draußen herrschte dichter Nebel, der das Scheinwerferlicht schluckte. Es war nichts zu erkennen.
»Ja, ja, das Sanatorium«, brummte der Fahrer und steckte sich eine Zigarette an.
Viktor ging zur Tür, und während er vom Trittbrett stieg, sagte er: »Ist das ein Nebel. Ich sehe überhaupt nichts.«
»Sie werden sich schon zurechtfinden«, versprach der Fah rer gleichgültig. Er spuckte aus dem Fenster. »Da haben sie sich einen schönen Platz für das Sanatorium ausgesucht. Morgens Nebel, abends Nebel …«
»Gute Fahrt«, verabschiedete sich Viktor.
Der Fahrer antwortete nicht. Er ließ den Motor aufheu len, dann schlugen die Türen zu, und der große leere Bus, der mit seinen von innen erleuchteten Fenstern an ein nächtliches Kaufhaus erinnerte, wendete und rollte in Richtung Stadt zurück; sogleich verwandelte er sich in einen trüben Lichtfleck. Mühsam tastete Viktor sich am Gitterzaun entlang, bis er schließlich das Tor fand und die Allee entlangtappte. Jetzt, da sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er verschwommen die hellen Fenster des rechten Flügels vor sich. Der linke Flügel, in dem die »Brüder im Geiste« schliefen, die tagsüber durch den Regen gejagt waren, blieb jedoch stockfinster. Die bereits bekannten Geräusche drangen, wie von Watte gedämpft, durch den Nebel: Eine Musikbox spielte, Geschirr klapperte, und jemand grölte heiser. Viktor lief mitten auf der sandigen Allee, um nicht versehentlich gegen eine Gipsvase zu stoßen. Die Flasche mit Gin drückte er sorgsam an seine Brust. Trotz aller Vorsicht aber stolperte er bald über etwas Weiches und kroch auf allen vieren weiter. Hinter ihm verlangte jemand träge und verschlafen, das Licht einzuschalten. Viktor tastete im Dunkeln nach der verlorenen Flasche, drückte sie wieder an seine Brust und ging, den freien Arm vorgereckt, weiter. Bald stieß er gegen ein Auto, um das er herumtappte, um sofort gegen ein zweites zu prallen. Verflixt, hier stand ja Wagen neben Wagen. Fluchend irrte Viktor wie in einem Labyrinth zwischen den Fahrzeugen umher und konnte sich lange nicht zu dem verschwommenen Lichtfleck durcharbeiten, hinter dem er den Eingang vermutete. Die glatten Karosserien waren feucht vom Nebel. Irgendwo in der Nähe wurde gekichert und gerangelt.
Diesmal war das Vestibül leer. Niemand spielte, mit dem dicken Hintern wackelnd, Blindekuh
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