Gesammelte Werke 6
Füße hinweg und zerrte die stolpernde Irma hinter sich her. Unflätige Flüche folgten ihnen. Sie durchquerten das Vestibül, und Viktor stieg, drei Stufen auf einmal nehmend, die mit Teppichen ausgelegte Treppe hinauf. Irma schwieg, und er wagte nicht sie anzusehen.
Auf dem Treppenabsatz erwartete ihn mit ausgebreiteten Armen, blau angelaufen und aufgeschwemmt, das Parlaments mitglied Roßschäper Nant. »Viktor!«, krächzte er. »Mein Freund!« Da sah er Irma und geriet in Begeisterung. »Vik tor! Nein, auch du! Mit minderjährigen kleinen Mädchen …!« Viktor kniff die Augen zu, trat ihm kräftig auf den Fuß und gab ihm einen Stoß vor die Brust. Roßschäper fiel auf den Rücken und riss den Papierkorb um. Schweißgebadet lief Viktor den Korridor entlang. Irma hüpfte lautlos neben ihm her. Er wollte Dianas Tür aufstoßen, aber sie war abgeschlossen, und der Schlüssel steckte nicht. Er hämmerte gegen die Tür, und Diana reagierte augenblicklich: »Scher dich zum Teufel!«, schrie sie wütend. »Du impotentes Stinktier! Du Scheißkerl, du Drecksack!«
»Diana!«, brüllte Viktor. »Ich bin’s, mach auf!« Diana verstummte, und die Tür flog auf. Sie stand sprungbereit mit einem Importregenschirm an der Schwelle. Viktor stieß sie beiseite, schubste Irma ins Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
»Ach, du bist’s«, sagte Diana. »Ich dachte, es wäre schon wieder Roßschäper.« Sie hatte eine Fahne. »Mein Gott«, sagte sie. »Wen bringst du da mit?«
»Das ist meine Tochter«, presste Viktor angestrengt hervor. »Sie heißt Irma. Irma, das ist Diana.«
Verzweifelt und hoffnungsvoll zugleich starrte er Diana an. Zum Glück schien sie nicht betrunken zu sein. Oder sie war vor Schreck nüchtern geworden.
»Du musst verrückt sein«, sagte sie leise.
»Sie ist völlig durchnässt«, murmelte er. »Gib ihr was Trockenes anzuziehen, pack sie ins Bett, und überhaupt …«
»Ich geh nicht ins Bett«, erklärte Irma.
»Irma«, drohte Viktor. »Tu, was ich dir sage, sonst prügle ich gleich jemanden windelweich.«
»Ja, hier verdient tatsächlich jemand Prügel«, versetzte Diana.
»Diana«, murmelte Viktor. »Bitte.«
»Schon gut«, beruhigte sie ihn. »Geh in dein Zimmer. Wir kommen schon klar.«
Unsäglich erleichtert, verließ Viktor das Zimmer und ging geradewegs in seins, fand aber auch dort keine Ruhe. Erst musste er ein ihm völlig unbekanntes Pärchen, das sich dort eingenistet hatte, mitsamt der befleckten Bettwäsche in den Korridor befördern. Dann schloss er die Tür ab und warf sich auf die kahle Matratze. Er steckte sich eine feucht gewordene Zigarette an und fragte sich, was er da wieder angerichtet hatte.
5
Felix Sorokin | »… und die Viehzucht!«
Ich schlief miserabel, weil mich hartnäckige Albträume plagten: Ich las da einen japanischen Text, dessen Worte mir zwar alle bekannt waren, aber sie ergaben trotzdem keinen Sinn. Und das war so quälend, weil ich unbedingt beweisen musste, dass ich mein früheres Fach nicht verlernt hatte. Von Zeit zu Zeit wurde ich halb wach und begriff erleichtert, dass alles nur ein Traum war; dann versuchte ich im Halbschlaf den Text zu entschlüsseln, fiel sogleich aber wieder in Verzagen und beklemmende Ohnmacht …
Selbst als ich schließlich aufgewacht war, verspürte ich keine Erleichterung. Ich lag im dunklen Zimmer und blickte zur Decke hoch, auf der sich ein quadratischer Lichtfleck von dem Scheinwerfer abzeichnete, der den bewachten Parkplatz vor dem Haus erhellte. Ich hörte den Lärm der ersten Autos auf der Chaussee und dachte schwermütig darüber nach, dass mich diese langen, trostlosen Albträume erst seit kurzem plagten, seit zwei oder drei Jahren; früher hatte ich mehr von hübschen Weibern geträumt … Offenbar wurde ich wirklich alt, denn hier handelte es sich nicht mehr um ein gelegentliches Abrutschen in Apathie, sondern um einen Dauerzustand, aus dem es für mich kein Zurück mehr gab.
Es stach im rechten Knie, drückte in der Herzgrube und piekte im linken Unterarm – alles schmerzte, und so tat ich mir noch mehr leid.
Diese Anfälle vor dem Morgengrauen, die in letzter Zeit immer häufiger wurden, führten mir unweigerlich meine Perspektivlosigkeit vor Augen: Nichts lag mehr vor mir; in all den Jahren, die noch kämen, würde nichts mehr sein, für das es lohnte, sich zu überwinden und aufzustehen, sich zur Toilette zu schleppen, um mit dem kaputten Spülkasten zu kämpfen, anschließend ohne Hoffnung, auch
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