Gesammelte Werke 6
hättest du gleich sagen sollen.« Er schwieg kurz und sagte dann. »Na, und wie hat es gestern geendet?«
»Was meinst du?«, fragte ich und merkte auf, weil mir unvermittelt der Mann im karierten Wendemantel in den Sinn kam.
»Na, deine Sache dort … Wohin wolltest du noch fahren?«
Ich begriff endlich, dass er sich lediglich nach meinem Besuch in der Bannaja erkundigte.
»Mist …«, sagte ich. »Wieder habe ich die Mappe irgendwo vergessen.«
Fieberhaft versuchte ich mich zu entsinnen, wo ich die Mappe mit dem unvergesslichen Stück über die Korjagins liegen gelassen hatte, während er pausenlos weiterschwatzte. Er erzählte von einem Gerücht, nach dem Schriftsteller, die öfter als dreimal verheiratet waren, aus der Warteliste auf eine Wohnung im neuen Schriftstellerhaus gestrichen würden und nur frei werdenden Wohnraum bekämen. Lenja Fips betraf das insofern, als er bereits die vierte Frau hatte.
»Im Restaurant habe ich sie vergessen!«, rief ich erleichtert.
»Wen?«, unterbrach er sich bereitwillig.
»Die Mappe.«
»Was für eine Mappe?«
»Eine Aktenmappe. Mit Bändchen.«
»Und was ist drin?«, drängte Fips.
»Hör mal«, knurrte ich. »Lass mich in Frieden, ja? Ich bin gerade erst aufgestanden, mein Bettzeug liegt noch offen herum.«
»Meins auch … Warst du nun gestern in der Bannaja?«
»Nein! Ich war nicht in der Bannaja!«
»Wo warst du dann?«
Der Gedanke, Fips von meinen gestrigen Abenteuern zu erzählen, schreckte mich. Nicht nur, weil mich aus dem gestrigen Tag plötzlich Iwan Dawydowitschs Doppellaufaugen anstarrten und das giftig warnende Gezischel des Dichters Kostja Kudinow zu mir drang, ja nicht einmal, weil ich hinter alldem eine Gemeinheit und Abscheulichkeit spürte. Es war einfacher, viel einfacher: Fips war ein Mensch, den das ›Was‹ nicht interessierte. Ihn interessierte immer nur das ›Warum‹. Mit seiner Bitte um Aufklärung würde er mir die Seele aus dem Leib zerren; zurückstopfen würde er sie, wie es gerade so kam – und dabei seine eigenen, gusseisernen Versionen vorbringen, von denen jede, wie zum Tort, nur einen einzigen Fakt erläuterte und allen anderen widersprach.
»Lenja«, sagte ich entschlossen. »Entschuldige, es klingelt an der Tür. Das wird der Klempner sein, ich hatte ihn bestellt.«
Damit legte ich den Hörer auf, ohne seinen Protest zu beachten.
Eigentlich mag ich Lenja Barinow. Mehr noch, ich schätze ihn sehr. Und den Spitznamen habe ich ihm nicht wegen seines Charakters gegeben, sondern wegen seines Äußeren. Er ist eben fipsig, klein, dunkel und immer durch irgendetwas aufgescheucht. Er schreibt unter Qualen, buchstäblich wenige Worte pro Tag, zweifelt ewig an sich und vertritt aufrichtig diese hirnverbrannte Idee von der Schulbuch-Literaturwissenschaft, derzufolge immer ein Wort treffender als alle anderen eine gegebene Idee ausdrückt, sodass man sich nur bemühen und ins Zeug legen muss, um dieses bestimmte Wort zu finden, denn einzig auf solche Weise wird man am Ende etwas Wertvolles schaffen.
Eins muss man ihm lassen: Sein literarischer Geschmack ist außerordentlich. Augenblicklich findet er die Schwächen jedes beliebigen Textes heraus, und er verfügt über selten gute Fähigkeiten zu literarischer Analyse – vergleichbare Kritiker sind mir nicht einmal unter unseren professionellen bekannt. Doch gerade dieses analytische Talent schlägt auf verhängnisvolle Weise in Unfähigkeit zur Synthese um, denn die Stärke eines Schriftstellers liegt ja, meine ich, nicht darin, das einzig wahre Wort zu finden, sondern alle offenkundig falschen zu verwerfen. Der arme Lenja sitzt also Tag für Tag da und wägt auf seiner inneren Waage bis zur Hirntrübung ab, wie man es wohl treffender sagt: »Sie berührte seinen Arm« oder »Sie streifte seinen Arm« … Und in seiner Verzweiflung ruft er Walja Demtschenko an und bittet ihn um Rat, und der grausame Walja antwortet, ohne zu zögern, mit dem berühmten Awertschenko-Zitat:»Sie ergriff ihm bei der Hand und fragte immer wiederholt: Wohin hast du das Geld gelassen …« Und dann telefoniert er verzweifelt mit mir, und ich reagiere auch nicht wie gewünscht, sodass ihm nur bleibt, mich mit ersterbender Stimme der Rohheit zu bezichtigen.
Und doch gibt es zwischen uns eine gewisse Verwandtschaft! Ich bin sicher: Läse ich ihm aus meiner Blauen Mappe vor – er würde mich verstehen und anerkennen wie vielleicht kein Zweiter auf dieser Welt. Nur ist es ausgeschlossen, ihm daraus
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