Gesammelte Werke 6
hat.
Und so groß und mächtig ist die Euphorie der Jugend, dass dieser simple Köder unweigerlich bei jedem Milchbart wirkt, sofern ihn überhaupt derartige Dinge beschäftigen. Und erst wenn der Mensch seinen Zenit überschritten hat und unaufhaltsam bergab rutscht, beginnt er zu verstehen, dass das alles nur Worte waren, sinnlose Worte der Anteilnahme und des Trostes, wie man sie Nachbarn sagt, die den Boden unter den Füßen verloren haben. In Wahrheit ist es nämlich egal, ob du eine Datsche aus geklauten Brettern oder einen Staat errichtet hast, weil es nur das Nichts vorher und das Nichts nachher gibt und dein Leben lediglich so lange einen Sinn hat, wie du das nicht bis zur letzten Konsequenz begreifst.
Zu solch düsteren logischen Gedankenkonstruktionen neigte ich erst seit kurzer Zeit. Meiner Meinung nach war das ein Vorbote – wenn nicht des Altersschwachsinns, so zumindest der Altersimpotenz, im weiteren Sinne des Wortes, versteht sich. Zuerst hatten mich die morgendlichen Anfälle erschreckt: Eilig hatte ich zum bewährten Mittel gegen allen Kummer, seelischen wie physischen, gegriffen und ein Glas Schnaps hinuntergekippt. So hatte wenige Minuten später das altgewohnte Bild vom Funken, der die Flamme entfacht – sei es auch eine kleine von lokaler Bedeutung – für mich wieder die Überzeugungskraft eines unerschütterlichen sozialen Postulats. Später, als ich mich an das Eintauchen in den Strudel des Weltschmerzes gewöhnt hatte, hörte ich auf mich zu erschrecken. Und ich tat recht daran, denn wie sich herausstellte, hatte der Strudel einen Grund, von dem ich mich nur abzustoßen brauchte, um wieder an die Oberfläche zu schwimmen.
Es ist nämlich so, dass die düstere Logik dieses Strudels nur auf die abstrakte Welt menschheitlicher Taten zutrifft; das konkrete Leben aber setzt sich keineswegs aus Handlungen zusammen, auf die man den Begriff »Sinn« anwenden könnte – sondern aus Freuden und Kümmernissen, großen wie kleinen, augenblicklichen und lang andauernden, rein persönlichen und solchen, die mit den sozialen Kataklysmen verknüpft sind. Und wie viele Kümmernisse auch über einen Menschen gleichzeitig hereinbrechen – immer bleibt ihm noch etwas, das seine Seele erwärmt.
Mir bleiben meine Enkel – Zwillinge –, die schmutzigen Raufbolde Petka und Saschka, und es bleibt das unvergleichliche, rührende Vergnügen, ihnen eine Freude zu bereiten. Die Tochter bleibt mir, Katja Pechvogel, der gegenüber ich mich ständig schuldig fühle, weshalb, weiß ich selbst nicht. Vermutlich, weil sie ist wie ich, mein Fleisch und Blut, und ihr Wesen wie ihr Schicksal dem meinen gleicht. Dann der Wodka mit den marinierten Milchpilzen im Klub … Das klingt banal, ich weiß, aber schließlich sind alle Genüsse banal! Ist das verantwortungslose halb trunkene Geschwätz im Klub etwa nicht banal? Oder das grundlose Entzücken, wenn man im Sommer vor Tau und Tag nur mit einer Unterhose bekleidet auf den Balkon tritt, der Himmel blau ist, die Chaussee noch leer und die Wände der Häuser gegenüber rosa schimmern, sich lange, bläuliche Schatten über das Brachland ziehen und in den üppigen grünen Büschen Spatzen krakeelen? Das ist auch banal, und doch bekommt man nie davon genug.
Es gibt natürlich auch die Macher, also Menschen, für die alle Freuden und Leiden im Tun und Handeln liegen. Brot brauchen sie nicht – sie wollen das Pulver erfinden,die Waldaihöhen stürmen oder anderswo Blut vergießen. Sollen sie! Wir aber sind kleine Leute. Uns reichen die Spatzen am Morgen. Überhaupt, ich darf heute nicht vergessen, wenigstens eine Schachtel Schokolade für die Zwillinge zu kaufen. Oder Spielzeug.
Als ich mich wieder besser fühlte, machte ich ein bisschen Gymnastik – ohne aufzustehen und mehr pro forma –, erhob mich dann ächzend und tastete mit den Füßen nach den Hausschuhen. Folgende Prozedur stand mir nun bevor: das Bett machen, die Balkontür weit öffnen und mich zur Morgentoilette ermuntern. Doch diese Reihenfolge wurde sogleich zerstört. Denn kaum hatte ich das Kissen auf den Sessel geworfen, schrillte das Telefon. Ich sah auf die Uhr, um herauszufinden, wer da anrief. Sieben Uhr vierunddreißig, also Lenja Fips.
»Grüß dich«, sagte er mit tiefer, verschwörerischer Stimme. »Wie geht’s?«
»Ohayo«, erwiderte ich. »Botsu-botsu-sa. Arigato.«
»Könntest du das in einer menschlichen Sprache wiederholen?«, fragte er.
»Kann ich. Everything is okay. «
»Das
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