Gesammelte Werke 6
nur annähernd die einstige Vitalität zu erlangen, unter die Dusche zu kriechen und das Frühstück herzurichten. Nicht genug, dass mich das Essen anwiderte – früher hatte mich danach eine Zigarette erwartet, auf die ich mich seit dem Aufwachen freute, jetzt aber war mir nicht einmal das geblieben.
Nichts habe ich mehr. Nehmen wir an, ich schreibe dieses Drehbuch, und es wird akzeptiert, dann drängt so ein junger, energischer und mit Sicherheit dummer Regisseur in mein Leben und fängt an, mich respektvoll und gleichzeitig frech zu belehren, dass der Film seine eigene Sprache hätte, Bilder darin das Wichtigste wären, nicht die Worte … Und mit Sicherheit wird er primitive Sprüche klopfen wie: »Nie im eigenen Land drehen« oder »Das verbuchen wir unter Weltanschauung«. Was interessiert er mich mit seinen kleinlichen Karrierenöten, wenn ich schon vorher weiß, dass der Film scheußlich wird und ich bei der Studiovorführung mit dem Wunsch kämpfen werde, aufzustehen und zu sagen: Streichen Sie meinen Namen aus dem Vorspann!
Idiotisch von mir, mich überhaupt damit zu befassen. Ich weiß doch längst, dass ich es bleiben lassen sollte, aber ich war und bin nun eben ein Hundefleischhändler und werde nie etwas anderes sein, selbst wenn ich hundert »Moderne Märchen« schreibe. Und wer weiß, vielleicht ist auch die Blaue Mappe, mein heimlicher Stolz und meine unbegreifliche Hoffnung, kein Hammel, sondern ein Hund – nur von einem anderen Schindanger …
Aber gut, nehmen wir einmal an, es wäre Hammel, ganz frisch, erste Qualität. Und dann? Solange ich lebe, wird es nicht erscheinen, weil ich weit und breit keinen Verlag sehe, dem ich klarmachen könnte, dass meine Visionen wenigstens für zehn Menschen in dieser Welt, mich ausgenommen, von Wert wären. Nach meinem Tod allerdings …
Ja, bei uns veröffentlicht man die etwas merkwürdigen Werke eines Autors oft postum, so als reinige der Tod sie von vagen Zweideutigkeiten, unnötigen Anspielungen und dem Arglistigen zwischen den Zeilen. Als stürben die allzu freien Assoziationen mit dem Verfasser. Möglich, möglich. Aber was kümmert mich das? Ich bin längst kein feuriger Jüngling mehr; die Zeiten sind lang vorbei, da ich mit jedem neuen Werk die Menschheit zu beglücken oder wenigstens aufzuklären meinte. Ich weiß seit Ewigkeiten nicht mehr, warum ich schreibe. An Ruhm reicht mir der, den ich habe; wie zweifelhaft er auch sein mag – es ist meiner. Geld verdienen lässt sich leichter mit Schund als mit ehrlicher schriftstellerischer Arbeit. Und die sogenannte Freude am Schöpferischen wurde mir kein einziges Mal im Leben zuteil. Was bleibt da noch? Die Leser? Über die weiß ich doch gar nichts. Für mich sind es einfach nur sehr viele, völlig fremde Leute. Und warum sollte mich die Meinung völlig fremder Leute interessieren? Ich weiß doch genau: Wenn ich verschwände, würde es keiner von ihnen bemerken. Mehr noch: Hätte es mich gar nicht gegeben oder wäre ich Stabsübersetzer geblieben, hätte das nichts, aber auch gar nichts in ihrem Leben geändert, weder zum Guten noch zum Schlechten.
Aber was rede ich von Felix Sorokin! Denkt etwa in der Zehnmillionenstadt Moskau jetzt, kurz nach dem Aufwachen, irgendjemand an Lew Tolstoi? Abgesehen von den Schülern natürlich, die ihre Hausaufgaben zu »Krieg und Frieden« nicht gemacht haben. Tolstoi – der Erschütterer der Seelen. Herr über den Verstand.Spiegel der russischen Revolution. Womöglich ist er genau deshalb aus Jasnaja Poljana weggelaufen, weil ihm am Ende seines Lebens dieser ebenso einfache wie vernichtende Gedanke gekommen war …
Aber er war doch gläubig, dachte ich plötzlich. Er hatte es leichter, bedeutend leichter. Wir hingegen wissen genau: Weder vorher noch nachher ist etwas. Die übliche Melancholie erfasste mich. Unser ganzes Dasein ist das Aufglimmen eines schwachen Funkens zwischen zwei Nichts. Weder Lohn noch Strafe erwarten uns im bevorstehenden Nichts, und es gibt keine Hoffnung, dass unser Funke irgendwann oder irgendwo noch einmal aufglimmen könnte. In unserer Verzweiflung erfinden wir für das Fünkchen einen Sinn, reden einander ein, Fünkchen sei nicht gleich Fünkchen, die einen würden spurlos verlöschen, andere aber gigantische Feuer von Ideen und Taten entfachen; folglich verdienten die ersten nur verächtliches Mitleid, die anderen aber seien in verschiedenerlei Hinsicht zur Nachahmung empfohlen – sofern du willst, dass dein Leben einen Sinn
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