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Gesammelte Werke 6

Gesammelte Werke 6

Titel: Gesammelte Werke 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkady Strugatsky
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vorzulesen. Denn er ist ein Schwätzer, ein löchriger Eimer: Nichts bleibt bei ihm! Seine Lieblingsbeschäftigung besteht leider darin, Informationen zu sammeln und sie dann zu verbreiten, wo und wem gegenüber es sich gerade ergibt, und dabei unbedingt seinen eigenen Senf dazuzugeben. Bei seinem hervorragenden Gedächtnis und seiner Einbildungskraft … Nein, allein der Gedanke, ihm aus der Blauen Mappe vorzulesen, ist schaurig.
    Er dagegen hat mir aus seiner Erzählung vorgelesen, an der er schon das zweite Jahr arbeitet. Sie handelt von einem Sprinter, einem genialen Sportler und unglücklichen Menschen. Der Held bricht alle Rekorde auf Strecken bis zu einem Kilometer, jeder ist von ihm begeistert und beneidet ihn, doch keiner weiß, warum er die Rekorde bricht: Auf der Tartanbahn erwacht in ihm die blinde Urangst des verfolgten Tieres. Mal für Mal treibt sie ihn ins Ziel, vergisst er jede Vernunft, alles Menschliche in sich und hat nur den einen Wunsch: um jeden Preis sein Leben zu retten und den nahenden Raubtieren zu entkommen, die ihn einholen, niederwerfen und bei lebendigem Leib fressen wollen. Er wird weltberühmt, bekommt Preise, Ehrungen – alles für seine pathologische, atavistische Furcht. Dabei ist er ein aufrechter Mensch und wird von einem wunderbaren Mädchen geliebt …
    Mir gefallen solche Handlungskurven. Den Lektoren gefallen sie nicht. Ich schätze sie sehr, weil es mal etwas anderes ist als stürmische Romanzen zwischen dem verheirateten Leiter der Hauptverwaltung und der verheirateten Technologin, und das alles vor dem Hintergrund brodelnden Metalls und Planrückständen beim Gießen.
    Während ich noch über die Literatur, Sujets und Fips Barinow nachdachte, setzte ich mich ans Frühstück. Das soeben von mir erfundene gehässige Beispiel für einen »stürmischen« Roman beschäftigte meine Fantasie. Jahrzehnte vergehen, Tausende und Abertausende von Seiten werden beschrieben, doch liefern uns diese Bücher letztlich nichts als Kitsch, bestenfalls rührende Hilflosigkeit. Und was frappiert: Diese Sujets sind real! Es wird tatsächlich Metall gegossen, Pläne werden nicht erfüllt; trifft in einer solchen Situation der verheiratete Leiter der Hauptverwaltung auf die verheiratete Technologin, geraten sie wirklich in Konflikt miteinander, der in eine leidenschaftliche Romanze übergehen kann. So ergeben sich scheußliche Situationen, und grässliche ethisch-organisatorische Geschwüre reifen heran, brechen auf und landen schließlich vor der Konfliktkommission.
    All das kommt wirklich vor im Leben, recht oft sogar, und es ist wohl nicht weniger darstellenswert alsdie stürmische, mit einem Duell endende Liebesgeschichte zwischen einem adligen Nichtstuer und einem Provinzfräulein. Dennoch ist es Stuss. Und wird immer Stuss bleiben – übrigens nicht nur bei uns, den Sowjetautoren.Bei Hemingway lachen sie einen Stümper aus, weil er einen Roman über den Streik in einer Textilfabrik schreibt und sich eifrig bemüht, Probleme der Gewerkschaftsarbeit mit der Leidenschaft zu einer jungen jüdischen Agitatorin unter einen Hut zu bringen. Eine verheiratete Technologin, jüdische Agitatorin … Die menschliche Sprache protestiert gegen solche Wortkombinationen, wenn es um die Beziehung zwischen Mann und Frau geht.
    In meinem Roman »Die Genossen Offiziere« entwickelt sich ein Liebesverhältnis vor dem Hintergrund der politischen Erziehungsarbeit unter den Offizieren des Panzerschützenregiments von N. Und das ist grässlich. Mir graut sogar, mein eigenes Buch wieder zu lesen. Solche Bücher brauchen einen besonderen Leser! Und den gibt es bei uns. Ob wir ihn mit unseren Werken geformt haben oder ob er sich von selbst entwickelt hat, weiß ich nicht – jedenfalls bleibt in den Buchläden nichts liegen.
    Ich stellte mich ans Fenster und trank meinen Kefir. Es wurde langsam hell, und draußen war es noch immer frostig. Die Bäume, die Sträucher – alles schimmerte weiß. Im Haus gegenüber verloschen die Lichter, schwarze Menschlein hasteten auf ungeräumten Pfaden zwischen Schnee wehen zur Bushaltestelle, Autos rauschten vorbei, einige schon ohne Standlicht.
    Weil es heutzutage keine Liebe mehr gibt, dachte ich plötzlich. Romanzen gibt es, aber keine Liebe. Für sie fehlt einfach die Zeit: die Busse sind überfüllt, in den Geschäften stehen Schlangen, die Kinderkrippe liegt am anderen Ende der Stadt – man muss schon ein sehr junger und sehr sorgenfreier Mensch sein, um lieben zu können.

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