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Gesammelte Werke 6

Gesammelte Werke 6

Titel: Gesammelte Werke 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkady Strugatsky
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…Über haupt sollte man mal darüber schreiben: wie Jesus heute auf die Erde kommt, aber nicht so wie bei Dostojewski, sondern wie bei Lukas und seinen Gefährten. Jesus erscheint im Generalstab und unterbreitet den Vorschlag »Liebet euren Nächsten«. Im Generalstab aber sitzt natürlich ein Judenhasser …
    »Sie gestatten, Herr Banew?«, vernahm Viktor eine laute, doch angenehm tiefe Männerstimme.
    Es war der Herr Bürgermeister – doch nicht jenes apoplek tisch gerötete, auf dem breiten Lager des Herrn Roßschäper vor ungesundem Behagen grunzende Schwein, sondern ein eleganter, wohlgenährter und glattrasierter stattlicher Mann mit einem bescheidenen Ordensband im Knopfloch und dem Abzeichen der Freiheitslegion am linken Oberarm.
    »Bitte«, erwiderte Viktor ohne große Freude.
    Der Herr Bürgermeister setzte sich, sah sich um und faltete die Hände auf dem Tisch.
    »Ich will mich bemühen, Sie nicht allzu lange aufzuhalten oder beim Essen zu stören, Herr Banew«, begann er. »Aber die Frage, mit der ich mich an Sie wende, ist so dringend, dass wir alle, ob groß oder klein, alle, denen die Ehre und das Wohlergehen unserer Stadt am Herzen liegt, bereit sind, unsere eigenen Angelegenheiten hintanzustellen, um sie so rasch und erfolgreich wie möglich zu lösen.«
    »Ich höre«, sagte Viktor.
    »Unser Gespräch, Herr Banew, findet in einem eher inoffiziellen Rahmen statt, weil ich weiß, dass Sie sehr beschäftigt sind, und ich wollte Sie nicht in Ihrer Arbeitszeit behelligen, da mir die Spezifik dieser Arbeit bewusst ist. Trotzdem wende ich mich in meiner Eigenschaft als Amtsperson an Sie – sowohl in meinem eigenen Namen als auch im Namen der gesamten Munizipalität.«
    Der Kellner brachte die Austern und eine Flasche Weißwein. Der Bürgermeister hielt ihn auf, indem er einen Finger hob.
    »Mein Freund«, bat er den Kellner, »eine halbe Portion Kitschingan-Stör und ein Gläschen Pfefferminz. Den Stör ohne Soße … Also, ich fahre fort«, wandte er sich nun wie der an Viktor. »Ich fürchte, unsere Unterhaltung ist als Tisch gespräch nicht sonderlich geeignet, weil es Dinge und Umstände berührt, die traurig, ja sogar unappetitlich sind. Ich wollte mit Ihnen über die sogenannten Nässlinge sprechen, über diese bösartige Geschwulst, die nun schon seit Jahren an unserem unglücklichen Landstrich zehrt.«
    »Gut«, sagte Viktor. Die Sache begann ihn zu interessieren.
    Der Bürgermeister hielt eine leise, wohldurchdachte und stilistisch ausgefeilte Rede. Er erzählte, wie vor zwanzig Jahren, gleich nach der Okkupation, im Rossgrund das Leprosorium, eine Quarantänestation für Leute gegründet worden war, die an gelbem Aussatz beziehungsweise der sogenannten Brillenkrankheit litten. Eigentlich sei diese Krankheit, wie Herr Banew wohl wisse, schon in unvordenklichen Zeiten im Land aufgetaucht, wobei sie, wie spezielle Untersuchungen ergeben hätten, besonders oft Bewohner des hiesigen Landstrichs befallen habe. Aber erst aufgrund der Bemühungen des Herrn Präsidenten habe man dieser Krank heit größere Aufmerksamkeit gewidmet. Auf seine persönliche Anordnung hin seien diese unglücklichen Menschen, die ohne jede medizinische Betreuung im ganzen Land verstreut gelebt hätten und seitens der Bevölkerung nicht selten ungerechten Verfolgungen ausgesetzt, seitens der Okkupanten sogar von direkter Ausrottung bedroht gewesen waren, an einem Ort zusammengefasst worden und hätten so die Möglichkeit erhalten, ein ihrer Situation angemessenes, erträgliches Dasein zu fristen. Dagegen sei absolut nichts einzuwenden, und die erwähnten Maßnahmen könnten nur begrüßt werden. Aber es komme eben vor, dass sich die besten und wohlmeinendsten Absichten mitunter gegen einen selbst richteten. »Wir wollen jetzt nicht nach Schuldigen suchen«, meinte der Herr Bürgermeister. »Wir wollen nicht die Tätigkeit des Herrn Golem durchleuchten, eine möglicherweise selbstlose Tätigkeit, die aber, wie sich jetzt herausstellt, zu unangenehmen Folgen führen kann. Wir wollen uns auch nicht mit voreiliger Krittelei befassen, obwohl uns persönlich die Haltung einiger hoher Instanzen, die unsere Proteste hartnäckig ignorieren, rätselhaft erscheint. Kommen wir zu den Fakten …« Der Bürgermeister trank ein Gläschen Pfefferminz, aß genüsslich ein Stück Stör dazu, und seine Stimme wurde noch samtiger. Man konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass ein solcher Mann mit Fallen auf Menschenjagd ging … Der

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