Gesammelte Werke 6
Teddy. Auch ohne dich kriegen sie im Leben genug Dresche, und wenn du mal das Bedürfnis hast, dei nem Kind eins hinter die Löffel zu geben, hau dir lieber selbst eine runter, davon hast du mehr.
Nach ein paar Gläsern fiel Viktor ein, dass Irma kein Wort über sein unmögliches Benehmen an der Kreuzung verloren hatte, und gelangte zu dem Schluss, dass er eine kluge Tochter besaß; außerdem war es nicht die feine Art, immer, wenn er sich in eine schwierige Situation manövriert hatte, zu seiner Geliebten zu laufen, damit sie ihm heraushalf. Dieser Gedanke stimmte ihn traurig, aber da kam Dr. Quadriga und bestellte wie üblich eine Flasche Rum. Sie leerten die Flasche zu zweit, und Viktor sah alles wieder in freundlichen Farben, weil ihm klarwurde, dass Irma ihm keinen Kummer machen wollte. Und das bedeutete, dass sie ihren Vater achtete, ja vielleicht sogar liebte. Anschließend kam noch jemand, der etwas bestellte, und danach ging Viktor wahrscheinlich schlafen. Ja, höchstwahrscheinlich … Man muss annehmen, dass er schlafen ging. Allerdings war da noch eine Erinnerung: ein gekachelter, unter Wasser stehender Fußboden. Aber was für ein Fußboden und was für Wasser das gewesen war, daran konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. Wozu auch …
Viktor stand auf, machte sich fertig und ging hinunter, wo er sich vom Portier die neuesten Zeitungen geben ließ und sich mit ihm über das verfluchte Wetter unterhielt.
»Wie hab ich mich gestern aufgeführt?«, erkundigte er sich nebenbei. »Alles in Ordnung?«
»Im Allgemeinen schon«, antwortete der Portier höflich. »Teddy wird Ihnen die Rechnung geben.«
»Aha«, sagte Viktor und beschloss, vorläufig nicht weiter nachzufragen. Er ging ins Restaurant und hatte den Eindruck, als hätte die Zahl der Stehlampen abgenommen. Verflixt, dachte er erschrocken … Teddy war noch nicht da. Viktor grüßte den jungen Mann mit der Brille und seinen Begleiter mit einer Verbeugung, setzte sich an seinen Tisch und schlug die Zeitung auf. Auf der Welt war alles beim Alten geblieben. Das eine Land behinderte die Handelsschiffe des anderen, und dieses protestierte energisch. Die Länder, die dem Herrn Präsidenten gefielen, führten gerechte Kriege im Dienst ihrer Nation und der Demokratie. Die Länder, die dem Herrn Präsidenten – warum auch immer – nicht gefielen, zettelten Eroberungskriege an, ja nicht einmal Kriege, sondern verbrecherische Überfalle. Der Herr Präsident selbst hatte nach einer glücklich überstandenen Mandeloperation eine zweistündige Rede gehalten über die Notwendigkeit, der Korruption ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Ein bekannter Kritiker, ein echter Schweinehund, lobte das neue Buch von Roz-Tussow – was zu denken gab, denn es war wirklich ein gutes Buch.
Ein neuer, Viktor noch unbekannter Kellner trat an den Tisch, riet freundlich zu Austern, nahm die Bestellung entgegen, wedelte mit der Serviette über den Tisch und entfernte sich. Viktor legte die Zeitungen weg, steckte sich eine Zigarette an und dachte an seine Arbeit. Nach einem zünftigen Gelage dachte er mit Vorliebe an seine Arbeit. Vielleicht sollte er einmal eine optimistische, fröhliche Geschichte schrei ben? Über einen Menschen, der seine Arbeit liebt und kein Dummkopf ist. Jemand, der seine Freunde mag, die ihn wiederum schätzen, und dem es gut geht. Ein prächtiger Bursche, wenn auch ein bisschen kauzig, spöttisch … Aber das Sujet fehlte. Und wenn das Sujet fehlt, ist es langweilig. Und überhaupt: Wenn man so eine Geschichte schreiben will, muss man erst einmal herausfinden, warum es diesem guten Menschen so gut geht, und dabei kommt man unvermeidlich zu dem Ergebnis, dass es ihm nur deshalb so gut geht, weil er seine Arbeit liebt und alles andere ihm egal ist. Wie aber kann er ein guter Mensch sein, wenn ihm außer seiner geliebten Arbeit alles egal ist? Natürlich, man könnte auch über einen Menschen schreiben, für den der Sinn des Lebens in der Nächstenliebe besteht und dem es gut geht, weil er seinen Nächsten und seine Arbeit liebt. Über einen solchen Menschen aber haben schon vor zweitausend Jahren die Herren Lukas, Matthäus, Johannes und – wer war das? – noch einer geschrieben, insgesamt waren es vier. Eigentlich weitaus mehr, aber nur von diesen vieren sind vergleichbare Texte überliefert; die Übrigen hatten entweder kein Nationalbewusstsein oder Schreibverbot, und der Mann, über den sie geschrieben haben, war leider nicht ganz normal
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