Gesammelte Werke 6
er.
»Guten Abend«, grüßte Viktor zurück und goss sich Kognak ein.
Golem vertiefte sich in seinen Brief. Hinter dem Tresen schnäuzte Teddy geräuschvoll in ein kariertes Taschentuch.
»Hör mal, Bol-Kunaz«, begann Viktor. »Hast du neulich gesehen, wer mich geschlagen hat?«
»Nein«, erwiderte der Junge und blickte ihm in die Augen.
»Wieso nicht?«, wollte Viktor mit finsterer Miene wissen.
»Weil er mir den Rücken zugekehrt hat«, erklärte Bol-Kunaz.
»Du kennst ihn. Wer war es?«
Golem gab einen undefinierbaren Laut von sich. Viktor blickte zu ihm hinüber. Nachdenklich und ohne jemanden anzusehen, riss Golem den Brief in kleine Stücke. Die Schnip sel steckte er in die Tasche.
»Sie irren sich«, sagte Bol-Kunaz. »Ich kenne ihn nicht.«
»Banew«, murmelte Dr. Quadriga. »Ich bitte dich … Allein halte ich’s da nicht aus. Komm mit. Mir graut’s.«
Golem stand auf, stocherte mit dem Finger in der Westentasche und rief dann: »Teddy! Setzen Sie’s auf meine Rechnung. Dazu kommen vier zerbrochene Gläser … Also, ich gehe dann«, wandte er sich an Viktor. »Denken Sie nach, und tun Sie das Richtige. Vielleicht sollten Sie sogar abreisen.«
»Auf Wiedersehen, Herr Banew«, verabschiedete sich Bol- Kunaz höflich. Viktor kam es so vor, als schüttle der Junge kaum merklich den Kopf.
»Auf Wiedersehen, Bol-Kunaz«, sagte er. »Auf Wiedersehen.«
Sie gingen, und Viktor trank nachdenklich seinen Kognak aus. Ein Kellner mit fleckigem, aufgedunsenem Gesicht trat an den Tisch und machte sich daran, ihn mit unbeholfenen, unsicheren Bewegungen abzuräumen.
»Sie sind wohl noch nicht lange hier?«, sprach Viktor ihn an.
»Nein, Herr Banew. Erst seit heute früh.«
»Und wo ist Peter? Ist er krank?«
»Nein, Herr Banew. Er ist abgereist. Er hat’s nicht mehr ausgehalten. Ich werde wahrscheinlich auch bald abreisen.«
Viktor blickte zu Dr. Quadriga.
»Bringen Sie ihn nachher in sein Zimmer«, bat er.
»Ja, natürlich, Herr Banew«, erwiderte der Kellner mit leiser Stimme.
Viktor zahlte, winkte Teddy zum Abschied zu, querte die Hotelhalle und nahm die Treppe in den ersten Stock. Dort trat er an Pavors Tür, hob die Hand, um zu klopfen, stand eine Weile reglos da und ging dann unverrichteter Dinge wieder hinunter. Der Portier stand in seiner Loge und betrach tete erstaunt seine Hände; sie waren nass, und es klebten Haarbüschel daran. Sein Uniformrock war ebenfalls übersät mit Haaren, und auf seinem Gesicht, auf beiden Wangen, prangten frische Kratzer. Er sah Viktor mit verwirrtem Blick an. All diese merkwürdigen Dinge aber durfte Viktor jetzt nicht beachten – das wäre taktlos und grausam gewesen. Und erst recht nicht durfte er darüber sprechen, im Gegenteil, er musste so tun, als wäre nichts geschehen, und alles auf später, morgen, ja vielleicht sogar auf übermorgen verschieben.
Viktor fragte: »Wo wohnt dieser, na, dieser junge Mann mit der Brille, der immer eine Aktentasche bei sich hat?«
Der Portier wurde verlegen und wich seinem Blick aus. Er starrte aufs Schlüsselbrett, antwortete dann aber doch: »Zimmer Nummer dreihundertzwölf, Herr Banew.«
»Danke«, sagte Viktor und legte ihm eine Münze hin.
»Aber sie werden nicht gern gestört«, warnte der Portier zögerlich.
»Ich weiß. Ich will sie auch gar nicht stören. Es war nur eine Frage. Wissen Sie, ich habe mir gedacht: Wenn’s eine ge rade Zahl ist, wird alles gut.«
Der Portier lächelte schwach.
»Was für Unannehmlichkeiten könnten Sie schon haben, Herr Banew«, sagte er höflich.
»Alle möglichen.« Viktor seufzte. »Große und kleine. Gute Nacht.«
Langsam, bewusst langsam ging er in den zweiten Stock hinauf, als wollte er es sich noch einmal überlegen, abwägen und die möglichen Folgen auf drei Jahre im Voraus überschlagen; in Wirklichkeit aber dachte er nur daran, dass der Teppich auf der Treppe so schäbig war, dass er längst hätte ausgewechselt werden müssen. Erst kurz bevor er an Zimmer dreihundertzwölf klopfte (ein Luxusapartment: zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein Fernseher, ein erstklassiges Radio, ein Kühlschrank und eine Bar), hätte er beinahe laut gesagt: »Sie gehören doch zu den Krokodilen, meine Herren? Sehr angenehm. Dann gehen Sie sich jetzt gefälligst gegenseitig an die Kehle.«
Er musste ziemlich lange klopfen: erst taktvoll, mit den Fingerknöcheln, und weil keine Antwort kam, mit der Faust. Als sich auch dann – von einem knarrenden Dielenbrett und einem Schnaufen
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