Gesammelte Werke 6

wollen.«
    »Wer: ›die alle‹?«, fragte Golem müde und nicht ohne Vor wurf.
    »Pavor. Pferd. Der junge Mann mit der Aktentasche. All diese Krokodile.«
    »Mein Gott«, stöhnte Golem. »Was sollen Krokodile in die ser Zeit schon von klugen und begabten Menschen wollen? Ich begreife nicht, was Sie von ihnen wollen. Was mischen Sie sich da ein? Haben Sie nicht genug Ärger am Hals? Reicht Ihnen der Herr Präsident nicht?«
    »Doch«, gab Viktor zu. »Mehr als genug.«
    »Umso besser. Fahren Sie ins Sanatorium. Nehmen Sie sich ein Paket Schreibpapier mit. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen auch eine Schreibmaschine schenken.«
    »Ich schreibe nach dem alten System. Wie Hemingway.«
    »Auch gut. Dann schenke ich Ihnen einen Bleistiftstummel. Arbeiten Sie, lieben Sie Ihre Diana. Fehlt Ihnen vielleicht noch ein Sujet? Wissen Sie vielleicht nicht mehr, worüber Sie schreiben sollen?«
    »Das Sujet ergibt sich aus dem Thema«, erklärte Viktor in belehrendem Ton. »Ich studiere das Leben.«
    »Tun Sie das. Studieren Sie das Leben, so viel Sie wollen. Aber mischen Sie sich nicht in laufende Prozesse ein.«
    »Das ist unmöglich«, widersprach Viktor. »Das Instrument beeinflusst das Experiment. Haben Sie vergessen, was wir in Physik gelernt haben? Wir sehen ja nicht die Welt als solche, sondern die Welt aus dem Blickwinkel des Beobachters.«
    »Sie haben schon mal eins mit dem Schlagring über den Schädel gekriegt, das nächste Mal knallt man Sie vielleicht ab.«
    »Erstens«, sagte Viktor, »war das vielleicht gar kein Schlag ring, sondern ein Ziegelstein. Und zweitens ist man sich nirgendwo seines Lebens sicher. Mir kann jeden Augenblick etwas passieren – soll ich deswegen nicht mehr aus dem Haus gehen?«
    Golem biss sich auf die Unterlippe, und man sah seine gelben Zähne – Pferdezähne.
    »Hören Sie, Sie Instrument«, sagte er. »Neulich haben Sie sich rein zufällig in ein Experiment eingemischt und prompt eins auf die Rübe gekriegt. Wenn Sie sich jetzt bewusst einmischen …«
    »Ich habe mich in kein Experiment eingemischt«, wider sprach Viktor. »Ich komme ahnungslos von Lola, und da sehe ich plötzlich …«
    »Idiot«, zischte Golem. »Er kommt ahnungslos von Lola und sieht plötzlich … Sie hätten einfach die Straßenseite wechseln sollen, Sie Hornochse!«
    »Wie käme ich denn dazu?«
    »Weil einer Ihrer guten Bekannten dort gerade seiner Pflicht nachging – Sie aber pfuschen ihm ins Handwerk.«
    Viktor richtete sich auf. »Was für ein guter Bekannter? Ich habe keinen Bekannten gesehen.«
    »Er traf Sie ja auch von hinten mit dem Schlagring. Haben Sie Bekannte mit Schlagring?«
    Viktor leerte seinen Kognak in einem Zug. Mit erstaunlicher Deutlichkeit stand ihm ein Bild vor Augen: Der erkältete Pavor mit seiner vom Schnupfen geröteten Nase zieht ein Taschentuch heraus, und ein handlicher, wenn auch schwe rer, matt glänzender Schlagring fällt polternd zu Boden.
    »Hören Sie auf«, verlangte Viktor und räusperte sich. »So ein Unsinn. Das kann doch nicht Pavor …«
    »Ich habe keinen Namen genannt«, erklärte Golem.
    Viktor legte die Hände auf den Tisch und betrachtete seine geballten Fäuste.
    »Und wieso ging er dort seiner Pflicht nach?«, erkundigte er sich.
    »Offenbar brauchte jemand einen lebenden Nässling. Kid napping.«
    »Und ich habe ihn dabei gestört?«
    »Sie haben’s versucht.«
    »Also haben sie ihn doch noch geschnappt?«
    »Sie haben ihn mitgenommen. Seien Sie froh, dass sie Sie nicht auch noch einkassiert haben, damit nichts davon durchsickert. Das Schicksal der Literatur ist denen egal.«
    »Also Pavor …«, sagte Viktor langsam.
    »Keine Namen«, mahnte Golem streng.
    »Dieser Hundesohn«, regte sich Viktor auf. »Aber gut, wir werden sehen. Und wozu brauchten sie den Nässling?«
    »Was heißt wozu? Sie brauchen Informationen. Wo sollen sie sonst welche herbekommen? Sie wissen ja: der Stacheldraht, die Soldaten, General Pferd …«
    »Also wird er jetzt verhört?«, murmelte Viktor.
    Golem schwieg lange. Dann sagte er: »Er ist tot.«
    »Haben sie ihn erschlagen?«
    »Nein. Im Gegenteil.« Golem schwieg wieder. »Die Schwach köpfe haben ihm nichts zu lesen gegeben, und da ist er verhungert.«
    Viktor warf ihm einen Blick zu. Golem lächelte traurig. Vielleicht weinte er auch. Viktor empfand plötzlich Entsetzen und drückende Schwermut. Ihm war, als verdunkle sich das Licht der Stehlampe, wie bei einem Herzanfall, die Luft blieb ihm weg, und er zerrte angestrengt an