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Gesammelte Werke 6

Gesammelte Werke 6

Titel: Gesammelte Werke 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkady Strugatsky
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plötzlich in den Sinn, dass so etwas schon früher vorgekommen war: im Bus, in der Metro oder in Stehkneipen, wo mich niemand kannte – den leeren Platz neben mir besetzten die Leute als letzten, erst wenn nirgendwo anders etwas frei war. Ich habe einmal gelesen, dass es Menschen gibt, deren bloßes Aussehen die Umwelt einschüchtert, abstößt oder den instinktiven Wunsch weckt, Distanz zu halten. Und von diesem Gedanken kam ich auf den gestrigen Brief. Dass sich keiner zu mir setzte, war eine Tatsache, die – wenn auch nur mittelbar – bestätigte, dass der gestrige Brief kein dummer Scherz gewesen war: Es hatte wirklich jemand etwas Fremdes an mir gespürt, etwas, das seine Fantasie erregte. Auch wenn der Hauptbeweggrund sicher nicht diese Lappalien, sondern meine »Modernen Märchen« waren.
    Gott, dieses Büchlein war wirklich wie ein Kind: Es hatte ungleich mehr Unangenehmes und Kummer gebracht als Freude und Vergnügen. Die Lektoren hatten es klein gehackt, Nudeln daraus gemacht, Fadennudeln, und wäre Miron Michailowitsch nicht gewesen, hätten sie es unrettbar verstümmelt. Und als es letztlich doch erschien, nahmen es die Rezensenten in die Mangel.
    Die Fantastik bildete sich in jenen Jahren gerade erst heraus; sie war noch plump, hilflos, von den Erbkrankheiten der Vierzigerjahre belastet, und für die Rezensenten schien sie so etwas wie die Pappkameraden bei der Kavallerie zu sein. Ich las die Besprechungen der »Modernen Märchen«, fauchte vor Schmerz auf, und vor meinen Augen erschien, wie auf einer Leinwand, ein Bild: Ich sah einen blassen schönen Mann im Tscherkessenrock undmit dem stieren Blick eines hoffnungslosen Kornilow-Offiziers; er löste, nachdem er seine Pachitos bis auf einen winzigen Rest aufgeraucht hatte, vorsichtig mit zwei Fingern den besabberten Stummel von der Lippe und fixierte mit zusammengekniffenen Augen mein schutzloses Buch. Dann zog er langsam den Säbel und nahm auf Zehenspitzen, mit über den Kopf gehobenem blauem Stahl, Anlauf …
    Sie schrieben, ich orientierte mich an amerikanischen Vorbildern, die nicht die besten seien. (Heute sind diese Vorbilder als die besten anerkannt.) Sie schrieben, bei mir verdrängten Maschinen die Menschen. (Maschinen und Autos gab’s bei mir keine, nur Busse.) »Wo hat der Autor solche Helden gesehen?«, fragten sie. Und: »Was kann solche Literatur unseren Leser lehren?«, »Sorokins hilfloses Büchlein ist ein Missklang in unserer Verlagstätigkeit.«.
    Und dann brachen Gagaschkins Rundschau und Bryshejkins Feuilleton im Freiwilligen Informator wie ein Unwetter über mich herein, ich landete im Krankenhaus, und erst da fiel meinen vorgesetzten Wohltätern auf, dass man vor ihren Augen einen guten Menschen schlachtete – wenn auch einen, der aus Versehen gestrauchelt war –, und sie ergriffen Maßnahmen. Ich erinnere mich ungern an diese Episode.
    Damals hatte ich die »Mars-Chroniken« noch nicht gelesen, ja nicht einmal von diesem Buch gehört. Ich schrieb meine »Märchen«, ohne zu ahnen, dass daraus umgekehrte »Mars-Chroniken« würden: ein Zyklus lustiger und trauriger Geschichten, die davon handelten, dass Außerirdische unsere Erde erobern. Das Wichtigste für mich bei den »Modernen Märchen« war der Versuch, uns, unser alltägliches Leben, unsere Leidenschaften und Hoffnungen aus einem gewissen Abstand zu betrachten, mit den Augen von Fremden, die nicht bösartig waren, sondern neutral, andersdenkend und andersfühlend. Heraus kam meiner Meinung nach etwas überaus Drolliges – einige Kritiker allerdings halten mich bis heute für einen Abtrünnigen der großen Literatur und manche Leser, wie sich nun herausstellte, für einen der Helden des Buchs …
    Der Kellner brachte mir den Fleischtopf, ich bestellte noch ein Glas Bier und begann zu essen.
    »Gestatten Sie?«, vernahm ich da eine leise, etwas heisere Stimme.
    Ich blickte auf. Neben mir stand, eine Hand auf der Lehne des freien Stuhles, ein hochgewachsener, buckliger Mann in Pullover und abgewetzten Jeans; sein schmales, bleiches Gesicht war von welligen, goldblonden Haaren umrahmt, die er schulterlang trug. Ich nickte bloß, und er setzte sich sogleich seitlich zu mir – offenbar störte ihn der Buckel. Dann legte er seine schäbige schwarze Mütze vor sich und trommelte leise mit den Fingernägeln darauf.
    Der Kellner brachte mein Bier und blickte den Buckligen fragend an. Er murmelte: »Für mich dasselbe, wenn’s geht.« Ich aß mein Fleisch auf, machte mich an

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