Gesammelte Werke 6
ist ihre HATL nur vier. Alles in allem – für Vergangenheit und Zukunft. Ungelesen wird sie von der Bildfläche verschwinden.«
Mich überkam ein sonderbares Gefühl. Mir war, als wollte er mir etwas soufflieren, mich auf einen bestimmten Gedanken bringen. Es schien, als klopfe er an eine mir unbekannte Tür meines Bewusstsein: Mach auf! Lass mich herein! Aber alle Worte, die wir sprachen, und alle Gedanken, die wir in Worte fassten, waren bis zur Farblosigkeit banal, und sie fanden in mir kein Echo. Es war, als schlüge jemand mit einem Federkissen gegen die Stahltür eines fest verschlossenen Safes.
»Richtig so«, sagte ich unschlüssig. »Gott mit ihr, meiner Rezension – tolles Kunstwerk …«
Er schwieg und massierte mit den Fingern die Haut über seinen Brauen.
»Ich habe gescherzt, Felix Alexandrowitsch«, murmelte er plötzlich fast schuldbewusst. »Sie haben natürlich völlig recht.«
Er verstummte. Auch ich sagte nichts und versuchte zu verstehen, womit ich recht gehabt hatte, zudem völlig recht. Zudem, worin die Pointe seines Scherzes bestand. Und als das Schweigen unangenehm und ein wenig peinlich wurde, sagte ich: »Dann gehe ich wohl?«
»Ja, ja, natürlich. Ich danke Ihnen.«
»Die Mappe darf ich mitnehmen?«
»Selbstverständlich, bitte sehr.«
»Aber vielleicht brauchen Sie sie …«
»Nein, vielen Dank. Wir haben alles, was möglich war, herausgeholt.«
»Also brauche ich nicht wiederzukommen?« Er blickte mich mit seinen unfrohen Augen an und antwortete: »Ich freue mich immer, Sie zu sehen, Felix Alexandrowitsch. Mor gen allerdings bin ich nicht hier. Kommen Sie übermorgen, wenn es Ihnen recht ist.«
Ich weiß nicht, was er eigentlich im Sinn hatte, aber für mich klang diese Einladung fast wie ein Befehl. Und wieder regte sich der Dämon des Widerspruchs in mir. Aber ich gab ihm keine Stimme und beschränkte mich darauf, die Schultern zu zucken und die Bändchen an meiner Mappe zuzubinden.
Da sagte er: »Vergessen Sie bitte die Noten nicht, Felix Alexandrowitsch.«
Tatsächlich hätte ich fast die idiotischen Noten auf seinem Tisch liegen gelassen. Er sah zu, wie ich sie in die Mappe stopfte und sie dann noch einmal zuschnürte, und als wir uns schon verabschiedet hatten und ich zur Tür ging, rief er mir nach: »Felix Alexandrowitsch, ich würde Ihnen nicht raten, diese Partitur mit sich herumzutragen. Da könnte wer weiß was passieren …«
Ich fragte nicht weiter nach. Mir reichte es. Als hätte ich nichts gehört, trat ich schweigend hinaus in den Flur und schloss hinter mir fest die Tür. Draußen saß niemand mehr.
Von der Bannaja zur Metro ging ich zu Fuß. Ich trottete vor mich hin, glitt immer wieder auf den vereisten Bürgersteigen aus, zwängte mich durch Trauben von Leuten aus der Provinz, die vor den Türen der Modeläden standen, bahnte mir meinen Weg durch die Scharen von Autos an den Kreuzungen und bemerkte bei alldem fast nichts um mich herum. Meine Gedanken schweiften immer wieder zu dem Gespräch mit meinem merkwürdigen neuen Bekannten. Er hatte sich übrigens auch später nicht vorgestellt. Wie er das nur hinbekommen hatte … Seltsam, sehr seltsam …
Einerseits war das Gespräch nichts Besonderes gewesen: Zwei intelligente Menschen waren dienstlich zusammengetroffen und hatten sich miteinander bekannt gemacht. Schön, der eine von ihnen hatte seinen Namen nicht genannt, und dem anderen war das erst nach dem Gespräch aufgefallen, aber das war nicht gar zu merkwürdig. Die beiden intelligenten, zweifelsohne einander sympathischen Menschen hatten gewisse, recht abstrakte Überlegungen zu banalen Themen ausgetauscht: Genialität, Schöpfertum, Literatur, Leser, Auflagenhöhen usw. Aber warum war mir, als hätte ich seit diesem Gespräch Splitter in meinem Bewusstsein? Irgendwo, hinter den Ohren, schien etwas zu jucken. Aber was und weshalb?
In der Metro, eingeklemmt zwischen zwei Kinderwagen (in dem einen lag ein Kind, im dem anderen Schläuche von »Moskwitsch«-Reifen), hörte ich durch das Rumoren der Räder auf einmal deutlich seine weiche Stimme: »Er hatte diese Komödie nicht nur schreiben wollen. Er hat sie tatsächlich geschrieben … Und im März ’52 ist das in Kukuschkino wirklich passiert.«
So. Das war er, der erste Splitter. Zuerst hatte er die Komödie geschrieben, und dann war das alles passiert. Blödsinn, Quatsch, da hatte ich mich verhört. Oder er hatte sich versprochen! Die Hauptsache aber – was war zwischen ihm und Anatoli
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