Gesammelte Werke 6
neugierig.
»Verzeihen Sie, Felix Alexandrowitsch, aber Ziffern sind immer einstellig. Siebenstellig können nur Zahlen sein. Die Zahl also, die in dieser Zeile des Displays erscheint« – er klopfte wieder mit dem Finger auf die Vier –, »ist, um es einfach auszudrücken, im diesem Fall die mutmaßliche Anzahl der Textleser.«
»Der Textleser also …«, murmelte ich ebenso schüchtern wie rachsüchtig.
»Ja. Ein gestrenger Stilist fände dieses Kompositum sicher abscheulich, doch im gegebenen Fall ist ›Textleser‹ ein Terminus, der einen Menschen bezeichnet, welcher zumindest einmal den betreffenden Text gelesen hat oder ihn künftig lesen wird. Demzufolge ist diese Vier keine mysteriöse Kenn ziffer Ihrer Genialität, Felix Alexandrowitsch, sondern lediglich die höchstwahrscheinliche Anzahl der Leser Ihrer Rezension, der Index HATL oder einfach TL …«
»Und was bedeuten ›H‹ und ›A‹?«, fragte ich, nur um etwas zu sagen; in meinem Kopf drehte sich alles.
»›HA‹ ist die höchstwahrscheinliche Anzahl.«
»Aha«, erwiderte ich und wollte schon still sein, aber da hellte es in meinem Kopf für einen Augenblick auf, und ich sagte entrüstet: »Was für eine Beziehung hat denn Ihr HATL zum Talent, zu den Fähigkeiten und überhaupt zur Qualität des, wie Sie ihn nennen, betreffenden Textes?«
»Ich hatte Sie schon darauf aufmerksam gemacht, dass dieses Maß lediglich eine indirekte Beziehung …«
»Nicht mal eine indirekte!«, unterbrach ich ihn und ging zum Angriff über. »Die Anzahl der Leser ergibt sich vor allem aus der Auflagenhöhe!«
»Und die Auflagenhöhe?«
»Lassen Sie’s gut sein«, wehrte ich ab. »Mir brauchen Sie nichts zu erzählen. Unsereins weiß, wovon und vor allem von wem die Auflagen abhängen! Haufenweise könnte ich Ihnen empörenden Schund nennen, von dem eine halbe Mil lion gedruckt wurde …«
»Freilich, freilich, Felix Alexandrowitsch! Sie reden schon wie Ihr eingegipster Kosluchin – Sie beziehen, wer weiß, weshalb, die Höhe des HATL halsstarrig und naiv auf die Qualität des Textes.«
»Nicht ich beziehe sie darauf. Sie stellen diese Verbindung her! Ich meinte doch gerade, dass es da überhaupt keinen Zusammenhang gibt, weder einen indirekten noch einen direkten!«
»Aber wieso denn nicht, Felix Alexandrowitsch? Hier, dieser Text«, er hob mit zwei Fingern das Blatt mit meinem unglückseligen Gutachten hoch, »hat, wie Sie sehen, die HATL-Ziffer vier. Haben Sie Einwände gegen diese Bewertung?«
»Na hören Sie mal … Das ist doch natürlich, bei einem Gutachten, noch dazu einem für den internen Gebrauch. Das liest der Lektor … und vielleicht der Autor, wenn man es ihm zeigt …«
»Dann haben Sie also keine Einwände.«
Geschickt wie ein Zauberkünstler, zog er plötzlich ein altes Schulheft mit ausgeblichenem, gelbfleckigem Umschlag aus meiner Mappe und hielt es mir so rasch vor die Nase, dass ich zurückfuhr.
»Was sehen wir hier?«, fragte er.
Wir sahen hier ein aus der Kindheit vertrautes, anrührendes Bildchen, auf dem ein bärtiger Recke Abschied nimmt von seinem mächtigen langmähnigen Pferd. Und unter dem Bild die Verse:»Oleg zieht zum Kampfe, begleitet vom Heer …«
»Und?«, fragte ich herausfordernd. »Das sind wunderbare, ausgezeichnete Zeilen. Kein Literaturunterricht konnte sie zerstören …«
»Zweifellos«, pflichtete er mir bei. »Aber es geht nicht darum. Wenn wir dieses Blatt jetzt der Maschine eingeben, was wird dann passieren?«
Ich wand mich ein wenig.
»N-na …«, nuschelte ich. »Da müsste ziemlich viel herauskommen … allein schon die Schüler … Zehn, zwanzig Millionen?«
»Mehr als eine Milliarde, Felix Alexandrowitsch«, widersprach er schroff. »Mehr als eine Milliarde!«
»Gut, vielleicht auch mehr als eine Milliarde«, wiederholte ich ergeben. »Ich sagte doch, viel …«
»Also«, fuhr er fort. »Bei einem trivialen Gutachten ist HATL gleich vier. Bei ›wunderbaren, ausgezeichneten Versen‹ übersteigt HATL eine Milliarde. Und da meinen Sie, das hätte nichts miteinander zu tun?«
»Aber das ist doch …« Ich wedelte mit den Armen und schnippte mit den Fingern. »Dieses Lied … vom weisen Oleg … Das ist gedruckt worden! Viele Male! Es wird sogar gesungen!«
»Es wird gesungen.« Er nickte. »Und man wird es auch künftig singen. Und noch viele Male drucken.«
»Na bitte! Meine Rezension dagegen …«
»Ihre Rezension dagegen wird man nicht singen. Und auch nicht drucken. Nie. Deshalb
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