Gesammelte Werke 6
vor wie der Abgesandte einer fernen Vergangenheit, in der es noch Chrestomathien gab – unvorstellbar, dass die übermütigen, energischen und anregenden Lieder, die man seit der Zeit der Kollektivierung sang und die auch jetzt noch bei Demonstrationen und Studentenabenden gesungen werden, nach Versen aus diesem Relikt entstanden sein sollen …
Ich saß also da und schaute mit dem einen Auge in den Chalabujew, den ich mittendrin aufgeschlagen hatte, und mit dem anderen zur Eingangstür, durch die Rita bald kommen musste. Apollon Apollonowitsch beobachtete unterdessen gönnerhaft, wie seine junge Verwandte ihr Beefsteak vertilgte, wobei er alle paar Minuten mit elegantem Schwung die ungehorsame Manschette in den Ärmel zurückjagte und, begleitet von dem unregelmäßig klappernden Gebiss, wieder einmal Memoiren referierte.
Aus diesen Memoiren hatte ich in den vergangenen Jahrzehnten zur Genüge gehört, deshalb registrierte mein geübtes Ohr jetzt nur zerstreut ein paar Stichworte. Da waren Wladimir Wladimytsch und seine merkwürdigen Beziehungen zu Ossja. Da tauchte Boris Leonidytsch kurz auf, irgendetwas Originelles, und gleich danach löste ihn Alexander Alexandrytsch ab, schwerkrank schon, einen Tag vor seinem Tod. Nun also Alexej Nikolajewitsch – und natürlich: »Ihre Erlaucht fuhren zum ZK …« Dann Samuil Jakowlewitsch … Kornej Iwanowitsch … Wenja erschien bei Alexej Maximowitsch, noch sehr jung und arrogant … Isaak Emmanuilowitsch begab sich auf seinen letzten kurzen Weg … »Und als die Injektionen verabreicht werden sollten, stell dir vor, mein Herzblatt, da stoben alle Autoren davon, hinter die Sträucher, in den Wald, und die Schwestern mit den vorbereiteten Spritzen hinterher; nur Mischa stand bedrückt am Klinikfenster und sagte: ›Die Hintern verdeckt jetzt der Wald …‹« Konstantin Sergejewitsch … »Ach, eines Tages wird man Sie im GUM verhaften, Wladimir Iwanowitsch …« Alexander Sergejewitsch … (hier zuckte ich zusammen). Wissarion Grigorjewitsch mit seinem Sohn Jossif …
Ich blickte zu Apollon Apollonowitsch hinüber; er war ein unerschöpflicher Quell für solche Geschichten. Die Verwandte ließen seine Memoiren übrigens völlig kalt; ich kann freilich nicht ausschließen, dass sie, genau wie ich, alles schon mehrfach gehört hatte. Und dann sagte Apollon Apollonowitsch aufgeräumt: »Hier kommt ja auch Michail Afanassjewitsch höchstpersönlich. Comment ça va, Michèle? «
Ich blickte auf.
… In einer Winternacht des Jahres ’41, als ich bei Luftalarm von der Granatenwerkstatt nach Hause ging, fiel in ein Holzhaus hinter mir eine Bombe. Ich wurde in die Luft gehoben, sanft über die Eisenspitzen eines Gartenzauns getragen und rücklings sacht in eine tiefe Schneewehe gelegt; dort lag ich mit dem Gesicht zum schwarzen Himmel und beobachtete dümmlich staunend, wie über mir brennende Balken – langsam und schwer wie Schiffe – vorüberschwammen …
Ebenso dümmlich staunend beobachtete ich jetzt, wie von der Eingangshalle, schräg durch das Restaurant, Michail Afanassjewitsch kam – mein unfroher Bekannter von gestern, zwar ohne den blauen Laborkittel, doch im Übrigen genau derselbe, er trug sogar denselben grauen Anzug. Seine Lippen bewegten sich, er beantwortete wohl Apollon Apollonowitschs Frage; mich dagegen bemerkte oder erkannte er nicht und schritt vorbei zum Saalausgang und zum »Vestibül der alten Fürstin«. Als er hinter der Tür verschwunden war, ertönte in der plötzlich entstandenen Stille, wie es sie sonst nach fürchterlichen Explosionen gibt, Apollon Apollonowitschs kreischende Stimme und verkündete ebenso vertraulich wie feierlich: »Er ist zur Bibliothek gegangen. Oder zum Parteikomitee.«
Ich stand schon bereit, ihm nachzulaufen. Hatte ich Fragen an ihn? Ja, hatte ich. Natürlich. Wollte ich ihn um Rat bitten? Zweifellos. Selbstverständlich. All das, was ich mir heute, an diesem bitteren Morgen, zusammengereimt hatte, wallte jäh in mir auf, wie giftiges Gebräu im Hexenkessel. Ich musste einfach erfahren, ob ich ihn neulich richtig verstanden hatte, und – falls ja – was ich jetzt mit diesem Wissen anfangen sollte. Allein deshalb lohnte es, ihm nachzulaufen, dabei war das noch gar nicht das Wichtigste: Denn jetzt wusste ich, wer mein unfroher Bekannter aus der Bannaja war, das heißt, um welchen Michail Afanassjewitsch es sich hier handelte! Es erschien mir offenkundig und unglaublich zugleich. Die heutige Begegnung war der würdige
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