Gesammelte Werke 6
entgegen, obwohl er meine Freundschaft mit »diesem Plagiator« nicht billigte. Ansonsten war er kein schlechter Mensch: sehr fleißig, hartnäckig und völlig uneigennützig. So hatte er sich beispielsweise die Mühe gemacht, eine lange Liste unterschiedlichster Definitionen des Glücks zusammenzustellen. Die Liste enthielt die sim pelsten negativen Definitionen (»Geld macht nicht glücklich«), die simpelsten positiven Definitionen (»Höchste Befriedigung, vollste Zufriedenheit, Erfolg und gutes Gelingen«), kasuistische Definitionen (»Glück ist das Fehlen von Unglück«) und paradoxe Definitionen (»Gibt es wohl einen glücklicheren Menschenschlag als jenen, der allgemein als töricht, närrisch, albern und einfältig gilt? Sie kennen nicht das Gefängnis des Gewissens; sie fürchten nicht Gespenster und Geister; drohendes Unheil quält sie nicht; Hoffnung auf eine gute Zukunft beunruhigt sie nicht«).
Redkin legte das Kästchen mit seinem Schlüssel auf den Tisch, sah misstrauisch zu uns herüber und sagte: »Ich habe noch eine Definition gefunden.«
»Was für eine?«, fragte ich.
»Es ist eine Art Gedicht, aber ohne Reim. Wollen Sie’s hören?«
»Ja, natürlich«, freute sich Roman.
Redkin holte sein Notizbuch heraus und las stockend:
»Ihr fragt mich:
Was ist das höchste Glück auf Erden?
Zwei Dinge sind’s:
Meine Ansicht zu wechseln
wie einen Penny gegen einen Schilling
und
dem Klang zu lauschen,
wenn ein junges Mädchen
den Weg entlanggeht, singend,
nach dem sie mich zuvor gefragt hat.«
»Ich verstehe kein Wort«, sagte Roman. »Darf ich mal sehen?«
Redkin reichte ihm sein Notizbuch und erklärte: »Das ist Cristopher Logue. Aus dem Englischen.«
»Wunderschöne Verse«, meinte Roman.
Redkin seufzte.
»Die einen sagen dies, die anderen jenes.«
»Ja, es ist nicht einfach«, sagte ich mitfühlend.
»Nicht wahr? Wie bringt man das alles unter einen Hut? ›Dem Klang zu lauschen, wenn ein junges Mädchen den Weg entlanggeht …‹ Und das Mädchen muss singen, und das auch noch, nachdem es ihn nach dem Weg gefragt hat. Wie ist so etwas möglich? Lassen sich solche Dinge denn algorithmieren?«
»Kaum«, erwiderte ich. »Ich jedenfalls würde mich da nicht ranwagen.«
»Da können Sie mal sehen!«, rief Redkin. »Dabei sind Sie der Leiter unseres Rechenzentrums! Wer, wenn nicht Sie?«
»Vielleicht existiert es gar nicht?«, fragte Roman provokant.
»Was?«
»Das Glück?«
Redkin reagierte beleidigt.
»Wie soll es nicht existieren«, erwiderte er würdevoll, »wenn ich es doch persönlich schon mehrfach erlebt habe?«
»Indem Sie einen Penny gegen einen Shilling tauschten?«, stichelte Roman.
Redkin reagierte noch beleidigter und nahm ihm das Notizbuch aus der Hand.
»Sie sind noch sehr jung …«, begann er.
In diesem Augenblick krachte und polterte es, eine Flamme zuckte auf, es roch nach Schwefel, und mitten im Vorzimmer stand Merlin. Redkin, der vor Schreck ans Fenster gesprungen war, kreischte: »Pfui Teufel!«, und suchte das Weite.
»Good God!«, stieß Roman hervor und rieb sich die tränenden Augen. »Canst thou not come in by the usual way as decent people do, Sir?«, fügte er hinzu.
»Beg thy pardon«, ließ sich Merlin lässig vernehmen und sah mich triumphierend an. Wahrscheinlich wirkte ich ziemlich blass um die Nase, denn die Gefahr einer Selbstentzündung war groß.
Merlin klopfte seinen von Motten zerfressenen Mantel ab, warf den Schlüsselbund auf den Tisch und erkundigte sich: »Meine Herren, haben Sie schon bemerkt, was für ein Wetter wir haben?«
»Ein Wetter wie prophezeit«, meinte Roman.
»Eben, Sir Oira-Oira! Wie prophezeit!«
»Ja«, sagte Roman. »Ein Radio ist eine feine Sache.«
»Ich höre kein Radio«, erwiderte Merlin. »Ich habe meine eigenen Methoden.«
Er wedelte mit seinen Mantelschößen und erhob sich einen Meter über den Fußboden.
»Vorsicht«, warnte ich. »Der Kronleuchter.«
Merlin sah auf den Kronleuchter und begann aus heiterem Himmel: »O ihr, vom Geist des westlichen Materialismus, Merkantilismus und Utilitarismus Durchtränkten, die ihr in eurer spirituellen Armseligkeit nicht fähig seid, euch über die Finsternis und das Chaos der nichtigen, grämlichen Sorgen zu erheben … Ich muss immerzu daran denken, meine Herren,wie sich im letzten Jahr der Sir Vorsitzender des Kreissowjets, Genosse Perejaslawlski, und Merlin auf den Weg begaben …«
Roman gähnte herzzerreißend, und mir wurde ganz traurig ums Herz.
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